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Traumschiff

Autor Alban Nikolai Herbst
Verlag Mare
ISBN 978-3-866-48215-9

Hier ist nicht vom Autor, sondern vom Erzähler die Rede. Geträumtes Schiff? Träumender auf dem Schiff? Was im normalen Leben eine Rolle spielen mag, tut es minder, wenn ein Mensch „das Bewusstsein“ hat, nämlich, wie der Ich-Erzähler, das Bewusstsein, das er mit weiteren einhundertdreiundvierzig Personen teilt, die das Schiff betreten haben, um es nicht mehr lebend zu verlassen: das Bewusstsein, in absehbarer Zeit zu sterben. Das Buch ist angelegt als ein Brief an die bewunderte und vom Erzähler im wörtlichen Sinn selbstlos geliebte Pianistin des Schifforchesters, das nur klassische Musik im Repertoire hat. Der Erzähler, der seine Schrift erst spät als einen Brief kenntlich macht, schildert Ereignisse, Personen, reflektiert „das Bewusstsein“ und wann es ihn ereilt hat – mit der Folge, das Schiff nicht mehr zu verlassen und nicht mehr zu sprechen. Der Rentier Gregor Lanmeister, auf die 70 Jahre zugehend und im Verlauf der Erzählung sich als schwerkrank zeigend, sinniert und assoziiert und wechselt diese Eingebungen und Gedanken, meist in kurzen Sätzen, die erst spät im Buch und damit zum Ende seines irdischen Lebens hin länger werden, mit Erlebnisschilderungen ab, die einmal mehr, ein anderes Mal weniger in seine weiteren Imaginationen, Erinnerungen, Projektionen einfließen. Diese Spontaneität wird zunehmend bereichert um Schilderungen, von denen der Leser zunehmend annimmt, dass sie phantasiert sind, sodass immer weniger klar wird, inwiefern der ehemalige Geschäftsmann erfindet und wiederfindet oder etwas Neues findet, wie etwa die Gemeinschaft jener mit Bewusstsein, deren Mitglieder einander ohne Worte erkennen und einander zugetan sind. Leser und Erzähler lernen von den gesamten einhundertvierundvierzig namentlich und persönlich nur einige wenige kennen, Originale oder Typen, deren real-physische Existenz zuweilen unsicher, deren faktisch-subjektive Existenz für den Sterbenden indes sicher scheint. Es sind feinsinnige Beobachtungen, humorvolle und ironische Bemerkungen, erschütternde Momente ob der Melancholie des Abschiednehmens, die einerseits vom Loslassen und der Bereitschaft erzählen, hinüberzugehen in eine andere Welt, vielleicht – wie Gregor Lanmeister es sagt – in das Meer als Tropfen einzutauchen und so ein neues Kollektiv zu finden, die andererseits auch verdeutlichen, dass auch jene mit dem Bewusstsein nicht in reiner Gelassenheit schwelgen, sondern sich auch aufbäumen, etwa gegen die gut gemeinte, aber als intrusiv erlebte Fürsorge von Zimmermädchen und Pflegern. Das Aufbäumen verebbt jedoch und macht Dankbarkeit Platz, sobald die Physis ihre Dienste verweigert – auch dies eine Erfahrung, die häufig zum nahenden Tode gehört. Der Tod des sehr jungen Pflegers Patrick, der von den älteren mit dem Bewusstsein zunächst mit Empörung (zu jung!) aufgenommen wird, wird dann doch gefeiert, wenn auch zunächst nicht von Gregor Lanmeister. Doch auch er feiert schließlich innerlich mit; denn Patrick ist glücklich gestorben: in seinem geliebten Lissabon –und Gregor Lanmeister weiß seinen eigenen Tod nah. Inwiefern der Briefschreiber sein Sterben mit Zufriedenheit, gar Glück beschließen und in den Tod „übergehen“ kann – all dies ist lesenswert für jene, die zu einem mußevollen Lesen bereit sind.

Hanspeter Reiter