Denken wird überschätzt
Autor | Niels Birbaumer und Jörg Zittlau |
Verlag | ullstein |
ISBN | 978-3-55-008123-1 |
Der bekannte Leiter des Instituts für medizinische und Psychologie und Verhaltensneurobiologie an der Universität Tübingen, Niels Birbaumer, hat erneut ein Buch mit dem Journalisten Jörg Zittlau geschrieben, dessen Titel jenen Leser in die Irre führen kann, der eine – heute beliebte – Gegenstellung von Denken und Fühlen und das Feiern des Fühlens erwartet.
Denken richtig schätzen
Es geht nicht um das Emporheben von Leere auf Kosten von Denken, sondern um eine Art Paradigmenwechsel im Denken, der mit dem Wechsel der Betrachterperspektive verwoben ist. Leere erscheint als – an Hirnwellen ablesbare – Abwesenheit von Denken, Wollen, Wünschen, Sinnsuche, Kontextkonstruktion, als Ausgeschaltetheit des Verteidigungssystems im Gehirn (Defense-, Default-System) und als Präsenz in einer Gegenwart, die das gesamte Erleben dominiert: reines Erleben, Wahrnehmen, reine Gegenwärtigkeit im Augenblick. In diesem semantischen Kontext steht die Wertung, das Denken werde „überschätzt“. Es empfiehlt sich, die Erläuterungen dessen, was Leere im Kontext von Gehirnprozessen und Erleben (soweit bekannt) laut Autoren bedeutet, aufmerksam zu lesen.
Leere richtig schätzen
Die Wertung „Überschätzung“ leuchtet Lesern vermutlich vor allem dann ein, wenn Praktiken buddhistischer (Zen-) Meditation, erotisch-sexuelle oder religiöse Ekstase, musikalische Rhythmen, Floating und ähnlich emotional Absorbierendes bzw. Denken Ausschaltendes als Beleg für die wohltuende, zuweilen kreativitätsfördernde Wirkung von Leere gleichsam gefeiert werden. Die Wertung und die im gleichsam penetrant positive Bewertung der Leere im Gehirn lösen zumindest ein zweifelndes Hin- und Herwiegen des Kopfes aus, wenn man die (lesenswertesten) Kapitel 10 und 11 „Krankheiten der Leere“ (Depression, Borderline, Schizophrenie, Demenz) und „Das richtige Leben im falschen Körper: Vom Glück im Locked-in“ liest. In diesen Kapiteln weicht die locker-unterhaltsame Tonalität der übrigen Kapitel einem ernsthafteren, sensibleren Ton. Auch die Formulierungen, die selbst bei Locked-in-Patienten die Leere als glückhaftes Erleben beschreiben, sind nicht in schrillen, sondern eher in Pastellfarben gemalt.
Hirnforschung inkl.?
Der Leser ist dankbar dafür, besonders jener, der durchaus Fragen hat. Etwa, inwiefern die rein biochemische, physiologische und bioelektrische Sichtweise mit all ihren Messungen, vorzugsweise der Hirnwellen (Alpha-, Beta-, Delta-,Theta- ), die Begeisterung für selbst pathologisch bedingte Leere ausreicht. Diese Frage bleibt auch dann, wenn die Autoren schildern, wie sie etwa mit Locked-in-Patienten kommunizieren und deren Zufriedenheit erheben. Dem Autorenpaar gelingt es trotz oder gerade wegen aller Fragen, einen mentalen Grundmusterwechsel in der Betrachtung und Bewertung von Leere im Leser zu befördern; dies gerade dann, wenn es ernst wird: Die Frage, ob man „die Geräte abschalten“ lassen will bei einem Menschen, der etwa locked-in ist oder im Koma liegt, wird so leicht unter Rekurs auf das „Lebenswerte“ nicht mehr aus der Sicht des Gesunden mit „ja“ beantwortet werden.
Perspektivwechsel
Dieser grundsätzliche Perspektivwechsel ist wertvoll und transferierbar auf sämtliche Entscheidungssituationen, in denen ein Mensch für einen anderen existentiell entscheiden muss. Die Lektüre dieses Buches sei nicht nur deshalb empfohlen, sondern auch, weil das Autorenduo die Leere im Gehirn, den Bedingungen, unter denen sie sich einstellt, sowie
ihre Nützlichkeit sowohl neurobiologisch und –physiologisch erläutert, als auch, weil die Autoren die Kapitel mit informativen Passagen, illustrierenden Beispielen und sogar mit Hinweisen, wie man im Alltag Leere trainieren kann, spicken. Es bleibt ein nachdenklicher Leser zurück – und das ist ebenso gewollt wie gelungen. Hanspeter Reiter, www.dialogprofi.de