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Die siebte Sprachfunktion

Autor Laurent Binet
Verlag Rowohlt
ISBN 978-3-498-00676-1

Ein Theorieroman, oder ein Roman, der ein Geschehen nach Maßgabe theoretischer, konkret: semiologischer, Folie erzählt und dabei, genrespezifisch, das Paradigma von Detektiv- oder Kriminalromanen nutzt?
Wozu dient Sprache?
Wie immer die Antwort ausfällt: Semiologie (resp. Semiotik) liegt in Symbiose mit kriminalistischer Logik und Dramaturgie dem Roman zu Grunde. Der Leser wird zum Dechiffrierer, zum Zeichenleser, zum Deuter und zum Detektiv. Er wendet sozusagen beide Paradigmen an: das Lesen von gesprochener und geschriebener Sprache, Handlungen, Gegenständen, Bewegungen, Geschehnissen als (mehrdeutige) Zeichen(folgen), und das Suchen von Zeichen als Indizien im Rahmen des Auftrags. Dieser kann wahlweise gelesen, sprich verstanden werden, einen Mord aufzuklären, oder darin, ein Manuskript zu finden, das Aufzeichnungen enthält, die Macht verleihen. Diese Macht beherbergt die „siebte Sprachfunktion“, insofern ihr das Potential unterstellt wird, via Sprechen Handlungen gleichsam unbewusst zwingend zu erzeugen. Diese siebte Sprachfunktion wird dem (strukturalistischen) Linguisten und Poeten Roman Jakobson (1896 – 1982) zugeschrieben und als besonders wirkmächtig beschrieben, weil sie Worte in Wahrheit(sglaube) &Handeln übersetzt.
Berühmter Autor stirbt..
Ausgangspunkt ist der historisch verbürgte Unfalltod von Roland Barthes. Der Autor von „Mythen des Alltags“ und „Fragmente einer Sprache der Liebe“ stirbt wenige Wochen nach diesem Unfall. Nur wandelt Laurent Binet diesen Unfall um in einen Mord. Diese Spekulation macht einen ermittelnden Kommissar nötig, der zunächst klischeehaft skizziert wird, nämlich konservativ, (Sprach-) Intellektuellen ebenso abgeneigt wie den in den 1980ern typischen (als revolutionär verbrämten) schmuddeligen Milieus von Geisteswissenschaftlern. Allerdings holt er sich genau einen solchen, einen Experten der Dechiffrierung, einen jungen Akademiker, der sich zwar zunächst weigert, mit der feindlichen Macht zu kooperieren, sich damit dann arrangiert. (Diese Ambivalenz schildert Laurent Binet humorvoll, ironisiert, zuweilen sensibel.)
Wandlungsfähige Protagonisten
Auf der Jagd durch verschiedene Städte Frankreichs, Italiens, den USA sowie durch unterschiedliche Lokalitäten (Universitäten, Cafés, Herrensaunen, Parks, Bibliotheken, Discotheken und einer geheimen Loge) wandeln sich beide Protagonisten spiegelbildlich. Der Kommissar öffnet sich intellektuell, wird neugierig, um semiologische Zusammenhänge zu verstehen, und lässt sich durchaus auf das wilde erotische Treiben von Geistesgrößen und Studenten anlässlich einer Tagung ein (die ihrerseits Schauplatz des kriminalistischen Plots wird). Sein Assistent verlässt das rebellierende Pathos im Innern und Äußeren und arrangiert sich wohlwollend nicht nur mit seiner Rolle, sondern auch mit Armani-Anzügen. Beide finden zu einer Freundschaft der besonderen Art.
Politik und Sprache
Auf diesem Weg tauchen sie in den damaligen Präsidentschaftswahlkampf ein, finden Beziehungen zwischen dem Manuskript und Politikern (Kandidat François Mitterand, Präsident Giscard d´Estaing, Jack Lang, 1980 von Mitterrand vorgesehener Kulturminister), Intellektuellen aus Philosophie und Semiologie, geraten an Geheimdienstleute, erleben erotische Abenteuer. Die meisten Intellektuellen werden, gleichsam als Hieb gegen ihre Verherrlichung, überzeichnet und fast aufdringlich karikiert. Und auch das Namedropping, das bestenfalls vorgebildete Leser einordnen können, macht phasenweise … überdrüssig?!

Unterhaltsam ist der Wechsel allemal, zwischen überzeichneter Inszenierung von philosophischen und sprachtheoretischen Größen, vulgären Dialogen (in der Extensität zuweilen Geschmacksache), denen mehr oder weniger Zeichenhaftes anhaften mag, und erläuternden Referaten, die dem Erzähler und dem vom Kommissar angeheuerten Sprachexperten, Simon Herzog, in den Mund gelegt werden.
Comic: Zeichen-Sprache?!
Und natürlich kommt auch der Comic ins Spiel, nahe liegend, wenn es um Zeichen und Bedeutung geht, also auch um „Zeichnung und Bedeutung“. S. 33 ist das sehr konkret, gleich in zweierlei Ausprägung: „Aus dem Rahmen steigt ein Strichmännchen heraus, macht „hahaha“ und zeigt breit lachend die Zähne, spöttisch, eine Hand vor dem Mund …“. Also zunächst zeichnerisches und entverbalisiert-gezeichnetes Element in one, typisch Comic?! Doch es geht weiter – es ist ein Comic, als Titelbild zu einem schmalen Bändchen „Rolandbarthisches leichtgemacht“ nämlich: „… – wie von Robert Crumb gezeichnet. Nach Überprüfung: Es ist tatsächlich von Crumb. Aber Bayard hat nie etwas von Fritz the Cat gehört …“, wenn der auch nächst liegend aus dem Comic-Genre ins Literarische hüpfen darf, geht es in diesem Roman doch stark auch ums Sexuelle, in vielen Passagen und Diskussionen und Verhaltensweisen – und auch dort um Bezüge zwischen Ausdruck und Ausdrücken! „Bayard, der mit der Ästhetik des Comic wenig vertraut ist, stellt keine Verbindung her.“ (S. 34) Wir jedoch dürfen genau das tun – und entdecken somit gleich noch Ausprägung drei im Roman! S. 148ff. schließlich stellt der Autor (mithilfe seiner Figur Simon, der die Rolle des Linguisten spielen darf) die sechs anerkannten Sprachfunktionen vor, entwickelt von Jakobson, als Matrix aus paradigmatischen und syntagmatischen Aspekten, ergänzt um sein Modell des Kmmunikations-Vorgangs: 1. Darstellung, 2. Ausdruck, 3. Appell, 4. Phatisch (vielleicht à la Selbstoffenbarung), 5. Metasprachlich (verstehen wir einander?), 6. Poetisch – die ästhetische Dimension. Und spätestens damit landen wir auch – beim Comic! Der darf S. 327 nochmals aufpoppen: „Simon, der alte Strange-Leser, ist jederzeit darauf gefasst, hiner gelben Taxis und roten Ampeln Spiderman hervorkommen zu sehen.“ Geradezu geschockt beim Hochkommen aus der U-Bahn in Manhattan beim Sehen (!) der Skyline aus Wolkenkratzern und dem Lichtband der 8th Avenue. „(Aber Spiderman ist ein „Supernumerar“, das kann also gar nicht sein.)“ Voila …
Fazit
Auf den Leser warten weitere, manchmal bemüht „abseitig“ wirkende, indes überraschende Dialoge und originelle Einfälle wie der Bezug zu einem entscheidenden Tennisturnier, oder personelle Konstellationen und deren Hintergrund. Hervorzuheben ist das Zusammenspiel von Geheimloge, Umberto Eco, Simon Herzog sowie die Funktion im Auffinden der Siebten Sprachfunktion. Es steht zu vermuten, dass dieser Roman dazu anregt, sich (wieder) mehr mit den Funktionen von Sprache zu befassen.

Hanspeter Reiter