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Das therapeutische Jahrzehnt

Autor Maik Tändler
Verlag Wallstein
ISBN 978-3-835-31850-2

Mehr vom Gleichen?
Wer stöhnt: „Noch ein Buch zum Psychoboom der 1970er Jahre“ findet in der Dissertation von Maik Tändler eine material- und zitatreiche sowie wissenschaftlich systematische Herleitung der noch gegenwärtig dominanten Psychologisierung von Alltag, Wirtschaft und Gesellschaft, mitsamt der damit verwobenen Emotionalisierung/ Moralisierung im Namen von Authentizität und Befindlichkeit sowie des Pathos um das Selbst (Selbstverwirklichung bis hin zu, inzwischen technisch aufgerüsteter, Selbstoptimierung) unter dem zeitgeschichtlichen (nicht politologischen, kulturwissenschaftlichen, soziologischen) Vorzeichen: Auswirkungen vorgängiger Entwicklungen auf das Psychojahrzehnt sowie Nachwehen bis in die Gegenwart.

Der Zeitrahmen
Der Fokus liegt zeitlich auf den 1960er bis 1970er Jahren, milieuspezifisch auf Trends im studentischen, akademischen Bereich und praktischen Ausläufern im politisch unterstützten schulischen Bereich sowie auf dem Gebiet sozialer Dienste (konfessionell, nicht konfessionell) und praktischer therapeutischer bzw. therapeutisierter Angebote.

Anbahnungen der Entwicklungen rund um Politisierung und Psychologisierung machen es nötig, zeitlich vor dem Psychoboom anzusetzen. (Wer dies vertiefen möchte, lese den Band von Mitchell G. Ash und Ulfried Geuter: Geschichte der deutschen Psychologie im 20. Jahrhundert von 1985). Und um zu verstehen, welche psychiatrischen, universitär-psychologischen Theorien und Praktiken und – davon abgekoppelt – psychotherapeutischen Konzepte in praxi haben reüssieren können, lohnt der Blick sowohl auf zeitlich davor liegende Moden (bis 1945 und danach). Bestimmte Auswirkungen des Psychobooms führen Maik Tändler zudem zu Aussagen bis zum Einsatz von Assessment Centern und Coaching in Unternehmen ab den 1980ern.

Der Autor teilt die Entwicklungen in Epochen ein und wählt pro Kapitel eine systematische Perspektive, die den Fokus seiner Ausführungen bestimmt. Das führt zwar zu Redundanz, die indes fruchtbar ist, da auf diese Weise die wechselseitigen Abhängigkeiten und Einflüsse deutlich werden.

Interdependenzen
Die Interdependenzen erscheinen unter diesen Vorzeichen: Erstens die Verwissenschaftlichung des Alltags, mit der Psychologisierung als einer der Facetten (weitere Kandidaten der Popularisierung und damit Diffundierung sind Soziologie/Sozialwissenschaften sowie Kybernetik als Steuerungswissenschaft). Zweitens eine milieubegrenzte Politisierung in der Variante marxistisch inspirierter Revolte, die sich zunehmend und dominant (aber nicht überall im Milieu) mit insbesondere psychoanalytischer Theorie vereinigt (sie gilt als Aufklärungspsychologie) und politisierte Subjektivierung als Ausweg aus kapitalistisch-ausbeuterischen und selbstentfremdenden Verhältnissen verspricht (flankiert von der Kritischen Psychiatrie und Kritischen Psychologie). Drittens – nach der großen Ernüchterung bzw. dem Realitätsschock – die Rückwendung auf das Subjekt als privates, dessen Aufgabe es ist, das Selbst zu erkennen und zu entfalten. Im Zuge dieser vorerst letzten Wendung muss man mit Maik Tändler und anderen von einer Entpolitisierung sprechen, ohne diesem Befund der Vereinnahmung durch kapitalistische Logik und Praktik alleinig das Wort zu reden.

Psychologisierung verfeinert
Wer im Themenfeld Verwissenschaftlichung/ Psychologisierung belesen(er) ist, hat die Möglichkeit, dem Autor rasch in seinen Argumentationen zu folgen, die Auswahl der Verweil- und Vertiefungsstellen kritisch zu prüfen, die bemerkenswerte und bemerkenswert gründliche (fundamentale) Ideologisierung nicht nur von Akteuren (Konsumenten) in der Szene, sondern auch und gerade von Wissenschaftlern wie den lange Zeit bewunderten Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter und von Politikern (besonders in Hessen) zu erkennen. Hier bietet sich umfangreiches Material, gegenwärtige Moden zu kommentieren. Wer mit dem Sujet weniger vertraut ist, dem sei empfohlen, die Einleitung gründlich zu lesen, um eine ungefähre Vorstellung vom Design der Arbeit zu erhalten und – so kognitiv gebahnt – den Ausführungen zu folgen.

Wissenschaftlich – gut so!
Die unbedingt lesenswerte Dissertation ist sprachlich ansprechend geschrieben (entgegen Rezentenklagen, die den sozialwissenschaftlichen „Jargon“ kritisch kommentieren; er hilft jedenfalls, Metaentwicklungen auf den Begriff zu bringen). Ein vorwiegend sachlich-nüchterner Ton wird zuweilen gewürzt mit feiner Ironie, etwa dort, wo der Autor die Selbstpfadfinder überführt, Paradoxien nicht zu sehen (insbesondere Anspruch auf Autonomie und Unterwerfung unter Psychoexperten bzw. Algorithmen). Informativ und unterhaltsam zu lesen, sind die historischen Belege, Zitate aus Dokumenten oder von Zeitzeugen; die Interpretationen und Schlussfolgerungen sowie metatheoretischen Betrachtungen des Autors. Denen muss man nicht (ausnahmslos) folgen. Darauf kommt es auch nicht an. Die Hauptbefunde sind ohnehin belegt, und dort, wo man beim Lesen andere Assoziationen hat und/oder die Stirn runzelt, erfüllt die Lektüre ihren Zweck bereits. Die Ausführungen von Maik Tändler erreichen zumindest ein Nachdenken und Bedenken und münden jedenfalls in Erkenntnisgewinn. (Die Ausnahme bildet das Kapitel zu Assessment Center und Coaching, das argumentativ auf wackeligen Beinchen steht und ideologiekritische Anmerkungen geradezu provoziert.)

Muss für Weiterbildner
Das Buch sollte sich auf dem Tisch von allen Personen befinden, die im psychosozialen Sektor, in der schulischen und beruflichen Weiterbildung arbeiten – insgesamt all jenen, die gestalterischen Einfluss auf Maßnahmen haben, die mit Erziehung, (Primär-, Sekundär-, Tertiär-)Bildung, mit Aus-, Weiter-Fortbildung und Personalentwicklung in Organisationen und Wirtschaft, mit In- und Exklusion im politischen Raum zu tun haben. Das Mindeste, das ihnen die Lektüre eröffnet, ist die Anfälligkeit für Ideologien, die ethisch oder politisch korrekt/erwünscht scheinende Positionen und Aktionen vorbereitet und kanalisiert.
Dr. rer soc. MA phil. Regina Mahlmann, www.dr-mahlmann.de

Regina Mahlmann