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Deutsch, nicht dumpf

Autor Thea Dorn
Verlag Knaus
ISBN 978-3-813-50810-9

Thea Dorn, Schriftstellerin, Moderatorin, Mitglied im „Literarischen Quartett“, knüpft mit dem „Leitfaden für aufgeklärte Patrioten“ an jenes „Stichwort“- Buch an, das sie zusammen mit Richard Wagner publiziert hat („Die deutsche Seele“, 2011; Näheres: Rezension von Stephan Wackwitz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 02.06.2018).

Ausgehend von der moralisch-pädagogischen Frage: „Dürfen wir unser Land lieben?“ und was Heimat und deutsche Kultur bedeuten könnten, möchte sie „mit dem Schürfen beginnen, indem ich versuche herauszufinden, worüber wir eigentlich streiten, wenn wir uns über der Frage entzweien, ob eine „spezifisch deutsche Kultur“ gibt“ (13) – um zu erkennen, „worum es bei den aktuellen Reizthemen dem Kern nach geht“ (ebd).

Dies vereinigt sie mit einem konstruktiv-kritischen Duktus, dem, gegen „hilflose Beschönigungen“ (S. 26) vorzugehen, sobald in der deutschen Diskussion Interkulturalität und kulturelle Bindungen verhandelt werden und hier im Besonderen die Rede über eigene Kultur und kulturelle Identität und folglich Heimat. Mit zahlreichen anderen Autoren teilt sie die (psychologisierende) Diagnose, dass diese Thematik grundsätzlich in Abhängigkeit vom subjektiven Empfinden gesellschaftlichen und kulturellen Wandels stehe und das kontroverse Momentum der „Überforderung“ geschuldet sei.
In acht Kapiteln geht sie der Fragestellung historisierend und durch Bezüge zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Kontroversen nach, holt sich interpretative, argumentative und kontextuierende Schützenhilfe von Autoritäten verschiedener wissenschaftlicher, literarischer und intellektueller Herkunft.
Das gilt besonders für den Komplex kulturelle Identität. Mit Autoritäten aus klassischer Literatur (z.B. Goethe, Schiller, Thomas Mann; dazu über 1000 Seiten lang: Dieter Borchmeyer, Was ist deutsch? 2017), Soziologie (z.B. Norbert Elias, Bernd Guggenberger, Andreas Reckwitz) und Philosophie (z.B. Fichte, Nietzsche, Herder) plädiert sie dafür, dass, sobald man von kultureller Identität spreche, Wandel immer schon implizit sei. Zivilisation und Kultur lägen in einem produktiven „Spannungsfeld“ und gehörten zusammen (35ff, 49).
Diese junktimartige Verbindung macht plausibel, warum Thea Dorn den (leider im politisch-gesellschaftlichen Raum verschlissenen) Begriff „Leitkultur“ durch den der „Leitzivilität“ (31ff, 50ff) möchte. Bemerkenswerterweise bemüht sie in der näheren Bestimmung den Rekurs auf Unternehmenskultur. (Bemerkenswert deshalb, weil Definitionen zu Unternehmenskultur ihre Quellen in kulturwissenschaftlichen Studien haben und der Begriff dort positiv besetzt ist.) Der kleinste Nenner findet sich in der Bestimmung von Zivilität bei Werten, Normen, Einstellungen, die mental und behavioral bahnen, die einen Korridor von Unerwünschtem und Erwünschtem markieren, sowohl individuell als auch kollektiv, sowohl privat als auch politisch. Von hier aus spezifiziert die Autorin ihr Plädoyer für Leitzivilität als Verfassungspatriotismus, in dessen Semantik sich Zivilgesellschaft und Teilhabe an ihr in Verhaltenweisen zeigen, die sich an Gesetzen und Routinen, inklusiv ihrer ethischen Grundierung, orientieren und kultur- und bildungspolitisch gefördert werden. In diesem Kontext wendet sich die Autorin explizit gegen Identitätspolitik verschiedener Provenienz und einschließlich Auswüchsen aus dem ideologischen Raum von political und moral correctness, Gendersprache. Emphatisch spricht sie sich aus für intellektuelle und dialogische Offenheit im Namen von Zivilität. (Dass sie in die verbreitete Falle tappt, individuelle und kollektive Identitätsbildung psychopädagogisch zu rahmen und Entwicklungen psychologisierend-pädagogisierend liest und begründet, ist intellektuell allerdings nicht zulässig, da es sich um kategorial unterschiedliche Phänomene handelt; basierend darauf, werden Interventionsbemühungen mehr oder weniger brauchbar, da mehr oder weniger angemessen.)
Der Begriff „Heimat“ nimmt einen prominenten Platz ein: „… von „Heimat“ sollte nur sprechen, wer von „Sehnsucht“ nicht schweigen kann. Beide Begriffe sind untrennbar aufeinander bezogen“ (133); als Zeugen fungieren Zeitzeugen wie Reinhold Messner und wiederum Autoritäten aus Literatur und Wissenschaft. Sie helfen der Autorin nicht nur dabei, diese Verflechtung zu begründen, sondern auch, Heimat gleichsam notwendig und exklusiv analog, im realen physischen Raum zu verankern. Digitalien als Lebensraum spielt hier keine Rolle, und das, obgleich inzwischen auch langfristig angelegte empirische Studien (z.B. Sherry Turkle), neurowissenschaftliche und therapeutische Befunde (Bergmann/ Hüther, Spitzer) zu virtuellen Lebensräumen, den Wechselwirkungen zwischen ihnen und der persönlichen Identitätsentwicklung wie zum Gefühl, „zuhause“ zu sein, eindrücklich zeigen, dass der Diskurs um kulturelle Identität und Heimat um diese Lebensdimension erweitert werden muss. Das Internat kann Menschen sehr wohl Heimat bieten, entgegen der Auffassung von Thea Dorn (z.B. 145).
Kulturelle Identität und Heimat kommen nicht ohne den Bezug zu Europa aus, zu einem Bekenntnis zu einem Europa, das jedoch Nationalstaaten respektiert und nationale (s) Heimat(gefühl) zulässt und nicht verächtlich verdammt. Ein „europäische(s) Wir (ist) ein sinnvolles Wir, wenn es uns gelingt, besser zu begründen und zu begreifen, was wir damit meinen.“ (S. 219) – und das schließt die Erkenntnis und das Bekenntnis ein, dass Nationalstaaten noch immer sinnvoll und nötig sind. Diese Überzeugung leitet Thea Dorn in bewährter Manier historisch, politisch und mit soziologischer und schriftstellerischer Hilfestellung her und verbindet mit Ihrem Bekenntnis die Notwendigkeit, Patriotismus, Heimatliebe, kulturelle Identität im Rahmen von Verfassungspatriotismus (S. 281) zu verstehen. Sie zitiert Ralf Dahrendorf, nach dem Patriotismus eine Voraussetzung für Weltbürgertum sei (S. 287). In Abgrenzung zu identitätspolitischen Extremen tritt die Autorin für eine Haltung ein, in der Nation (Verfassung) etwas überindividuell Wertvolles zu erkennen, für das man sich einsetzen sollte. (Zu diesem Komplex finden um Selbstaufklärung bemühte Leser höchst informative, von bekannten Hauptströmungen abweichende, differenzierende und zum Denken anregende fachliche, zum Teil fachwissenschaftliche Aufsätze aus verschiedenen Disziplinen von Gastbeiträgern insbesondere in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in Beiträgen im politischen Magazin Cicero und in der Neuen Zürcher Zeitung aus der Schweiz.)
Die Eingangsfrage, ob wir Deutschland lieben dürften, verneint Thea Dorn – sofern Deutschland das Deutschland der alten Nationalhymne gemeint sei (S. 331). Sie bejaht es hingegen, sofern es in einem Bedeutungsfeld liegt, das etwa Kennedy, Brechts und Eislers Kinderhymne, Haydens Melodie und Hoffmann von Fallerslebens Text in der dritten Strophe des Deutschlandliedes verkünden (S. 334).

Regina Mahlmann