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Game over

Autor Hans-Peter Martin
Verlag Penguin
ISBN 978-3-328-60023-7

Game over – lautet die Diagnose des ehemaligen Spiegel-Auslandskorrespondenten und Mitglieds des Europäischen Parlaments (15 Jahre lang unabhängiges Mitglied). Er meint die (repräsentative) Demokratie, die sich global auf dem Rückzug befindet.

Der Autor kann – nicht zuletzt aufgrund seiner vieljährigen Partizipation in diversen europapolitischen Ausschüssen und Delegationen – aus dem Vollen schöpfen, wenn es nicht nur darum geht, wesentliche globale Entwicklungen nachzuzeichnen, sondern auch darum, Haltung, Bewusstsein und Interessen von gestaltenden Akteuren aus der internen Sicht zu schildern.

Bei aller zuweilen scharfen Kritik an insbesondere politische, mediale und ökonomische Eliten bleibt dem Leser die lange Zugehörigkeit zu „Der Spiegel“ und europäischen Institutionen nicht verborgen. Die Parteilichkeit des Autors ist neben Facetten seiner Grundhaltungen und Weltanschauung dem dringenden Wunsch gezollt, die Dramatik der aktuellen Situation unmissverständlich zu deklarieren und ein Europa zu schaffen, das demokratisch, liberal, offen und freiheitlich bleibt und es mit den Hauptakteuren USA und China (diese werden besonders hervorgehoben) als gewichtiger Partner auf der internationalen Bühne aufnehmen kann. Das Gros der Vorschläge dazu ist politisch Interessierten weitgehend bekannt – und durchaus diskutabel, wie die Kontroversen zeigen.

Gründe für die Diagnose verbergen sich in Etiketten wie Neoliberalismus. Prominent das Thema Ungleichheit, die politisch gefährlich ist und noch gefährlicher für die Demokratie, wie wir sie noch kennen, wird. In Verbindung mit dem, was Digitalisierung in all ihren Facetten bereits realisiert, wird die Katastrophe noch befördert. Auch hier droht die chinesische Übermacht mit ihrem Ehrgeiz, einen von der Bevölkerung akzeptierten Überwachungsstaat herzustellen: wirtschaftlich und technologisch – so dass bereits das Chinesische Modell als Alternative zur westlichen Demokratie diskutiert wird.

Nicht zu vergessen, die Europa wie den einzelnen europäischen Staaten, expressis verbis auch der Bundesrepublik Deutschland, fehlende geostrategische und gesamtkulturelle Vision, verbunden mit Optionen, die bis dato offiziell geforderte und als Wert an sich gefeierte Vielfalt, so gestalten zu können, dass ein friedliches Zusammenleben möglich bzw. wahrscheinlicher ist als das Gegenteil.

Ein weiteres Stichwort ist die Entfremdung der Eliten, die um sich selbst kreisen, ihre eigenen Milieus nicht verlassen und daher in Unkenntnis dessen sind, wie der Alltag von Abermillionen Menschen aussieht und die deshalb Probleme haben, eine Politik und Wirtschaft zu betreiben, die in deren Dienst steht. Die Auswirkungen grenzen an Verweigerung: sich der Verantwortung, die gestaltende Akteure per Auftrag haben, zu stellen.

Dazu gehört auch die Dominanz eines „Narrativs“, das mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten zunehmend kritisch diskutiert und auf seinen Beitrag zur Tendenz zu Nationalismus, Patriotismus und Autorität befragt wird. Es geht um das als linksliberal bezeichnete Narrativ, das sich auf individuelle Identitätspolitik verlegt hat und dabei die Mehrheit verloren hat. Im Zuge dessen ist die Frage, die der Autor als Frage von Barak Obama auf S. 179 zitiert von höchstem Belang: „Was ist, wenn wir unrecht hatten?“ Bedauerlicherweise geht Hans-Peter Martin diesem gedanklichen Pfad nicht nach, ein Nachdenken, das auch dazu führen würde, dass der Autor eigene Vorannahmen und Ideologeme überprüfen müsste und wahrscheinlich zu anderen Vorschlägen für das Danach des „Und dann?“ im Untertitel sorgen würde.

Beängstigend ist die Abnahme der Attraktivität demokratischer, offener Systeme und politischer Verfasstheit, insbesondere bei Jüngeren. Sie ist beängstigend, aber nicht überraschend. Seit einigen Jahren werden immer wieder Befragungen durchgeführt, die die Attraktivität messen sollen. Nicht nur in den USA nimmt sie rapide ab, sondern auch im westlichen Europa.

Zum einen genießt ökonomische Sicherheit einen hohen Wert und wird als Bedingung der Möglichkeit betrachtet, persönlich so leben zu können, wie man sich wohlfühlt (das geht nicht zwangsläufig mit Eskapismus einher, sondern mit Hedonismus). Zum anderen fühlen sich immer mehr Menschen orientierungslos angesichts einer Vielfalt und Komplexität, die individuell nicht mehr verdaut werden kann und mangels machbarer attraktiver Alternativen als Beliebigkeit empfunden wird. Wie sich historisch zeigen lässt, mündet dieses Überforderungs- und Verlorenheitsgefühl in den Ruf nach autoritativen Institutionen und klaren Vorgaben. Wachsende Unglaubwürdigkeit von Presse (der zudem Parteilichkeit unterstellt und durchaus auch nachgewiesen wird), von politischen und wirtschaftlichen Akteuren tragen ebenso zu der Sympathie für Autoritarismen. Und zum dritten sollte die Digitalsozialisation (Soziale Netzwerke, Gaming etc.) unbedingt als sozialisatorischer und also Denken, Fühlen, Verhalten prägender Einfluss ernst genommen werden. Hier können neurowissenschaftliche Erkenntnisse und Erfahrungen aus psychotherapeutischen Praxen außerordentliche Dienste leisten.

In dieser Gemengelage rät der Autor, dringend Selbstkritik zu üben (Politiker, Wirtschaftsakteure, Presse, Medien), die eigene Selbstgefälligkeit aufzugeben und den Blick wieder auf das zu richten, wofür Politiker demokratischer Systeme von einer Mehrheit gewählt wurden bzw. verantwortlich sind.

Nur gibt es genau hier ein Problem: Der ungarische Präsident, zum Beispiel, wurde gewählt. Er nennt sein System: illiberale Demokratie; auch der amerikanische Präsident wurde gewählt. Niklas Luhmann sprach von der Legitimität durch Verfahren. Es kann also nicht um das Moment der Wahl gehen. Hans-Peter Martin verlegt sich daher auf zwei bekannte Hinsichten: auf das dumme, wahlweise getäuschte Volk und auf das am eigenen Ideal gemessene Undemokratische, das eine solche Wahl wahrscheinlich macht. Damit muss man den Blick auf politische Praxis richten. In diesem Kontext osteuropäischer Politpraxis hebt der Autor denn auch das Autoritative hervor mit seinen Freiheit und Vielfalt eingrenzenden Folgen. Warum Freiheit (zu was eigentlich? Nur individuelle oder auch kollektive?) und „betörende Vielfalt“ als Werte an sich zu verteidigen und zu realisieren sein sollen, bleibt wenig beleuchtet. An mehreren Stellen gilt seine Verachtung jenen, die Sicherheit und Wohlleben in einem goldenen Käfig der Unsicherheit und dem Nichtwohlleben („prekäre Verhältnisse“, die der Autor durchaus sieht) vorzieht. Das ist bedauerlich, da der Verzicht auf fundamentale Befragung von Freiheit, Offenheit, Vielfalt etc. und die Bewertung das Denken in alternativen Möglichkeiten einschränkt und es weniger wahrscheinlich macht, jene zu gewinnen, die man verloren glaubt.

Kein Wunder folglich, dass Hans-Peter Martin von einem rechtsnationalen Masterplan spricht und fast verschwörungstheoretisch wirkt. Die Selektivität seiner Zitate, die Deutung von Stellungnahmen, die Beispiele etc. gehorchen der vorab gefällten Schlussfolgerung und stehen in einem bemerkenswerten Gegensatz zu seinem in der Einleitung formulierten Bemühen, „ein Manuskript zu verfassen, das weder Leser vor den Kopf stößt, die neonationalen Positionen etwas abgewinnen können, noch Kinder der Bonner Republik wie mich.“ (S. 12) Mehr analytischer Tiefgang und mentale Offenheit wären ein Gewinn für das Buch.

„Und dann?“ fragt der Autor. Seine Antworten können ein Anfang sein, um das näher auszuführen und auf praktische Leistbarkeit zu überprüfen, was er „Die Vernunft der Utopie“ nennt und das Abschlusskapitel bildet. Vieles kommt bekannt vor – ein Vorteil, da sich dann leichter anknüpfen lässt. Dass von „Utopie“ die Rede ist, zielt auf eine regulative Idee: die der Teilhabe, die Hans-Peter Martin dekliniert, in Bildung, Ökonomie, Politik, Infrastruktur, also gesamtgesellschaftliche Architektur und Kultur.

Regina Mahlmann