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Franziska Scheler

Autor Bernard von Brentano
Verlag Schöffling
ISBN 978-3-895-61489-7

Bernard von Brentano (1901 – 1964) hat dank seines „Theodor Chindler“ einen festen Platz (auch) in der deutschen Literatur. „Franziska Scheler“ ist – mehrfach überarbeitet und erstmalig in der Schweiz erschienen – dank des Publizisten und Professors am Institut für deutsche Philologie der LMU München, Sven Hanuschek, 2015 in der Bundesrepublik publiziert. Unbedingt aufmerksam zu lesen ist das äußerst informative und instruktive Nachwort von Sven Hanuschek, der auch Herausgeber ist, den Roman in den Horizont der beruflichen und persönlichen Biographie Brentanos stellt und verständnisfördernde Anmerkungen zu Einordnung und Interpretation macht.

Wiedergänger?
Aus dem Vorgängerroman, Theodor Chindler, begegnen dem Leser Leopold, der Sohn des Patriarchen und Politikers um 1918, als Hauptperson. Um Leopolds Gedanken- und Erfahrungswelt oszilliert das Geschehen. Näher bekannt sind auch die Mutter und Schwester Maggie (Margarethe). Scheinbar nimmt die streng katholische Mutter, die gegen Ende des Romans ihren Auftritt hat, nur eine Nebenrolle ein. Gleichwohl symbolisiert sie eine religiös und, wenn auch in geringerem Maß, standespolitisch motivierte Halsstarrigkeit, die es ihr schlussendlich verbietet, ihre geliebte Tochter, Maggie, nach vielen Jahren der Kontaktlosigkeit und Sehnsucht zu empfangen, als diese auf der Durchreise ihren Besuch durch einen das Mutterherz rührenden Brief anbietet. Margarethe verkörpert im Vorgängerroman eine Schlüsselfigur, dort noch eher als Typus als als Persönlichkeit mit diversen Facetten. Sie wurde politisch und sozial „abtrünnig“ und daher von den Eltern verstoßen. Unbeirrt und – wie in „Franziska Scheler“ deutlich wird – mit viel Entsagung und Verzicht in Denken, Fühlen, Handeln – in Liebe und Zugehörigkeit, bleibt Maggie trotz des leidvollen und ihrer Gesundheit abträglichen Vagabundenlebens und des ihr schmerzhaften Verzichts auf persönliche Autonomie und Individualität der kommunistischen Ideologie und sozialistischen Umwälzungsidee treu.

Leopold Chindler
Sowohl in den Dialogen mit ihr als auch mit Wilhelm Braun, Leopolds bestem Freund, gewinnt Leopold, inzwischen ein renommierter Journalist der Berliner Allgemeinen Zeitung und Autor eines historischen Werks, das kontrovers rezipiert wird und dessen Verriss durch einen Kollegen er seine Kündigungsinitiative und neue Chefredakteurrolle einer Zeitschrift verdankt – und damit seine persönliche Freiheit – an Profil. Die zwei Hauptthemen umfassen die Frage nach personaler Freiheit und persönlicher Autonomie sowie die Frage nach der Veränderbarkeit grundlegender persönlicher Disposition. In Bezug auf die erste Frage tritt Leopold als Antidot zu seiner Schwester Maggie auf. Er zeichnet persönliche Freiheit und Autonomie als per se erstrebenswert und feiert die junge Demokratie im Jahr 1929 in glühenden Worten (noch nicht der herannahenden Katastrophe ahnend).
Die zweite Fragestellung erfreut sich – wie gegenwärtig – sozialisationstheoretisch begründeter und humanistisch-moralischer Bejahung, so auch in der Figur des Wilhelm Braun. Leopold jedoch verneint. Die Kontroverse ist im Jahr 2018 hochaktuell.

Anhand der romantischen, passagenweise fast übersentimental wirkenden Liebesgeschichte zwischen Leopold und Franziska Scheler werden neben Liebesauffassungen weitere bildungsbürgerliche Positionen, Vor- und Werturteile sowie Distinguierungsfragen deutlich. Während Maggie eine gleichsam unzeitgemäße Abweichung inkarniert, trifft der Leser bei Franziska auf eine Figur und Persönlichkeit, die sich dem Großbürgertum zurechnet, begonnen bei der äußeren Erscheinung bis hin zu Denk- und Urteilsreferenzen. Franziska kann sowohl als Typus als auch als Persönlichkeit gelesen werden.

Franziska
Letzteres, insofern sie sich hat scheiden lassen (ihr Mann hatte eine Geliebte, und diesen „Seitensprung“ wollte/ konnte sie nicht verzeihen) und lebt alleinerziehend, allerdings mit Haushälterin/ Kinderfrau, in Berlin. Sie ist eher passiv und sentimentalisch (feinfühlig mitsamt der Eigenheit, rasch beleidigt zu sein, gern „auszuteilen“, aber nicht „einzustecken“), bis sie Leopold ein zweites Mal in ihrem Leben begegnet und sich beide ineinander verlieben. Sie entwächst ihrer der eigenen Unsicherheit zu verdankenden Umklammerung von Leopold, ebenso wie dem Bestreben, Leopold zu Verhaltensweisen zu nötigen, die ihrer Versicherung dienen sollen. Ohne dass die Entwicklung im Einzelnen dekliniert würde, wandelt sie sich dank der Anregungen und dank der besonnenen Widerständigkeit Leopolds zu einer Person, die initiativ wird, an Selbstsicherheit und Selbstständigkeit gewinnt und aus diesem Grund bereit und in der Lage ist, Leopolds Individualität zuzulassen, ja zu respektieren.

Fazit und Zusammenfassung
Diese dürre Skizze deutet bereits an, dass es sich bei dem Roman nicht nur um eine Liebesgeschichte handelt, sondern um eine Erzählung, die nicht primär politische (wie in „Theodor Chindler“), sondern Fragen von Lebensanschauung und –praxis thematisiert, eingewoben in die Großwetterlage der späten 1929er Jahre (repräsentiert durch eine Schauspielerin) und in diametral unterschiedlicher Lebensentwürfe und Lebensläufe.
Der Roman ist frei von psychologisierendem Ballast – ein wohltuender Unterschied zu den meisten heutigen Romanen mit ähnlichem Sujet. Bernard von Brentanos Stil liest sich flüssig – und ist, ebensowenig wie Dramaturgie und Inhalt, einfach, sondern vielschichtig. Darauf weist Sven Hanuschek anlässlich seiner rezeptionsgeschichtlichen Einordnung explizit hin. Aufmerksame Leser werden ihm zustimmen. Es lohnt sich, in der vermeintlichen Schlichtheit feine Nuancierungen zu entdecken.

Regina Mahlmann