Besinnt euch!

Die Suche nach Sinn ist dem Menschen wesenseigen. Fehlende Antworten auf die Sinnfrage können zur Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben führen. Das Buch von Rüdiger Heinrich Jung „Besinnt Euch!“ setzt hier an und bietet uns – unter Verzicht auf vorgefertigte Lösungen des Marktes für Persönlichkeitsentwicklung – die Möglichkeit, eigene Antworten auf die Sinnfrage zu finden. Eine Vielzahl von Hinweisen erleichtert diese Aufgabe.

Im Kapitel 2 „Wert- und Sinnorientierung als Wesenskern von Menschsein“ geht der Autor zunächst auf die Bedeutung von Sinn ein. Sinn versteht er als „die Bewegung zu etwas hin“ – und verweist auf wesentliche Quellen für diese Auffassung. Dabei ist es ihm ein zentrales Anliegen, die Verbindung der Sinnfrage mit der geistigen Dimension zu analysieren und zu verknüpfen. Wie ist der Geist erfassbar und messbar – und warum werden die nicht messbaren Teile vielfach in der Forschung ignoriert bzw. vernachlässigt? Der Kreis schließt sich mit dem Einbezug von Werten, welche die Richtung des Handelns kanalisieren, in die Betrachtung.

In Kapitel 3 „Der Reduktionismus in den Wissenschaften und die Ignoranz gegenüber der geistigen Seinsschicht des Menschen“ setzt sich Jung kritisch und vertieft mit der häufigen Vernachlässigung der geistigen Dimension in wissenschaftlichen Betrachtungen auseinander. Ob „naturwissenschaftlicher Reduktionismus“, Verdrängung der Phänomenologie, Nicht-Berücksichtigung von Emotionen oder die Auffassung vom Menschen als „Körperapparat“ – in allem zeigt sich die Vielfalt der Ignoranz.

Im Kapitel 4 befasst er sich mit „Sinnlehre und Sinnfülle“. Den von uns angestrebten Sinn können wir weder kaufen noch sonst wie erwerben. Obwohl die Sinnleere sogar existenzbedrohend sein kann, gibt es hierzu kein anerkanntes Krankheitsbild aus schulpsychologischer Sicht. Um Selbstbetrug (Sinntäuschung) und Sinnleere zu vermeiden, gibt Jung mit vier Punkten eine Orientierungshilfe. Zunächst geht es darum, dem individuellen Wertesystem situationsabhängig im eigenen Handeln Raum zu geben. Hierbei geht es um schöpferische Werte, Erlebniswerte und Einstellungswerte, wie er an eindrucksvollen Beispielen ausführt. Eine Abkehr von der Haben-Haltung hin zur Seins-Haltung, Glücksvertrauen statt zwanghaftes Glücksstreben und eine „pflegliche Beachtung und Würdigung“ unserer vitalen Basis, nämlich des Psychophysikums, sind weitere wesentliche Aspekte.

Das Kapitel 5 „Sinnsuche und die Verlockungen der Sinnverkäufer“ behandelt zunächst die existenzielle Sehnsucht nach dem Sein. Dem entgegen steht in der Sozialisation des Menschen häufig die Sehnsucht nach dem Haben. Auch im täglichen Leben unterliegen wir Menschen häufig den „Verlockungen der Sinnverkäufer“ (S.71). „Geistiges Lebensunternehmertum“ stellt Jung dem entgegen.

Das abschließende Kapitel 6 behandelt „Die Schlüssel zu den alltäglichen Sinnfragen: Gegenwärtigkeit und die Weisheit des Herzens“. Dabei wird – bei den Anfragen des Alltags wie bei den großen Anfragen in herausfordernden Lebenssituationen – die Hinwendung zu Werten dann zum Sinnerleben, wenn „wir durch unsere Antwort etwas Wertvollem zur Geltung verholfen haben…“ (S. 73). Jung zeigt auf, dass Werte zunächst immer nur Möglichkeiten sind und nur in einer aktuellen Situation realisiert, also zur Geltung gebracht werden können. Das Leben findet h eute statt, die Gedanken aber bewegen sich um das Gestern oder das Morgen. Gegenwärtigkeit und Alltägliches bleiben häufig vernachlässigt bzw. unberücksichtigt. Die derzeit stark betrachtete Achtsamkeit ist einer der möglichen Wege in die Gegenwärtigkeit. Gegenwärtigkeit und Wertsichtigkeit ermöglichen wertvolle Antworten auf individuelle Sinnfragen, und zwar zu Antworten oder Lösungen, die aus uns selbst herauskommen.

Ein ausführliches Anmerkungsverzeichnis, zahlreiche Erläuterungen im Textbereich und ein umfangreiches Literaturverzeichnis komplettieren das inspirierende Werk von Rüdiger H. Jung.

Fazit:

Zielgruppe des Buches sind grundsätzlich alle an einer ernsthaften Reflexion von „Sinn im Leben“ Interessierten. Aus meiner eigenen Coachingtätigkeit heraus lese ich das Buch aber auch mit einer bestimmten professionellen Brille und kann es deshalb auch als unverzichtbaren Input für die Tätigkeit von Coaches und Beratern empfehlen.

Hans-Jürgen Ramisch