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Ach, die Werte!
Bildung. Ein Essay
Der technischen Zivilisation gewachsen bleiben

Autor Hartmut von Hentig
Verlag BELTZ Verlagsgruppe

165 Seiten
ISBN 3407220669
Preis: 10,90 EUR

210 Seiten
ISBN 3407221584
Preis: 12,90 EUR

328 Seiten
ISBN 3407221150
Preis: 16,00 EUR

Was bitte kann uns Andragogen (Erwachsenenbildner) denn ein (Schul-)Pädagoge sagen, ein Reformpädagoge gar? Kinder lernen nun mal anders als Erwachsene (siehe Handbuch Bildung, Training und Beratung), oder? Tatsächlich können Trainer und Berater nur dann erfolgreich weiterbilden, wenn sie auf Kenntnisstand wie Lernfähigkeit eines Teilnehmers einzugehen vermögen. Zu wissen, wie ein Mensch und warum so lernt (oder nicht lernt: Thema Störung, schwieriger Teilnehmer), trägt jedenfalls zum Erfolg bei.

HvH treibt etwa das Thema Neue Medien um; hier haben wir die Verbindung zur Diskussion ums E-Learning. Haben wir zu erwarten, dass die künftigen Erwachsenen tatsächlich kaum mehr Präsenz-Unterricht erwarten resp. erfordern, weil von klein auf an Computer und Fern-Lernen gewöhnt? Ich fasse zunächst einige grundlegende Gedanken HvHs zusammen, bevor ich notiere, welche Gedanken mir während des Lesens kamen; ich zitiere auszugsweise aus dem Epilog drei Punkte, aus denen sich gut und gerne Leitsätze für Erwachsenenbildung ableiten lassen (S. 290 ff.):

1. „Pädagogische Hilfen für eine mit Medien aufwachsende Generation dürfen sich nicht auf die unmittelbar von diesen gegebenen Chancen, Unsicherheiten und Gefahren beschränken. Die Hoffnung, die man auf neue Fächer setzt, auf „virtuelle Lehrerfortbildung“, auf eine besondere Medien-Kompetenz der Lehrer, die diese im Unterricht an die Schüler vermitteln, auf eine Einübung der Schulen in die Medienwelt dadurch, dass man Sie ans Netz bringt – diese Hoffnung greift zu kurz.“
2. „… die Schule ihre kompensatorische Funktion wahrnimmt und bejaht: Sie muss in erster Linie lehren, was das Leben nicht lehrt, was aber für seine Erhaltung und Würde notwendig ist:… Medien, ihre Prozesse, Produkte, Probleme kommen im Leben vor, aber wie man sie dienstbar macht,… das ist .,.. aus dem Internet, an den Fernsehgewohnheiten der Erwachsenen… nicht zu lernen.“
3. „… Wenn es zu schnell geht: Aufzeichnungen machen, sich Zeit nehmen, den Bild- oder Informationsablauf unterbrechen, ihn redend, denkend, handelnd unter sich bringen. … Die gute Schule ermöglicht Arbeit, Handlung, Entscheidung und lässt in diesen lernen, was das ist, was das jeweils erfordert, was das ermöglicht…“

Beim Lesen in diesem fordernden Buch fühlte ich mich zum Beispiel erinnert an:
 … einen Freund, für den beim Verkaufen von Versicherungen entscheidend ist, „mit Menschen“ zu tun zu haben: Er telefoniert fast so gerne wie er bei und mit Menschen ist; doch E-Mail ist ihm nach wie vor ein Gräuel: 1-2x die Woche schaut er rein. Was bedeutet das fürs Lernen?
 … eine potenzielle Mitarbeiterin für den Telefonverkauf, die letztlich Abstand nahm, weil sie „das Gegenüber brauche“: Und wie ist´s beim Lernen?
Ich erinnerte die Begeisterung „meiner“ Studierenden an der TU München, als sie sich 1,5 Tage an Präsentationen „ohne Technik“ üben durften (eben mit klassischen Moderations-Mitteln). Nach anfänglichem Fremdeln wohl gemerkt: wie, ohne Powerpoint? Meinen Laptop soll ich weg packen??

Denken Sie mit mir beim Lesen an das Internet im Zusammenhang mit immer währenden Versuchen, auch beim Lernen mit immer weniger Menschen (= Trainern, Lehrern, Dozenten..) auszukommen? Siehe E-Learning, Blended Learning, WBT (Web Based Training) usw. Mit einem Coach im PC, interaktiven Elementen und möglichst wenigen Präsenz-Trainings? Nun hat es andererseits „schon immer“ Fernlehrgänge gegeben, mit klassischen Hilfsmitteln. Ich persönlich – fiel mir dabei ein – habe vorm Englisch-Abitur vor langen, langen Jahren Vokabeln gepaukt, indem ich Langenscheidt Grund- und Aufbau-Wortschatz selbst auf (damals) Tonband gesprochen habe, um 2x 2.000 Wörter (wenn ich recht erinnere?) immer und immer wieder abzuhören und nachzusprechen. Damit schaffte ich eine „1“ in der Übersetzung – allerdings: übermäßig nachhaltig war das nicht…

Was aber heißt das für uns Trainer, wenn die nachwachsende Generation „so“ erzogen wird: Sind dann klassische Trainings für Erwachsene irgendwann unmöglich, weil diese als „Kids“ garnicht mehr gelernt haben, „natürlich“ aufzunehmen? Auch in meiner Arbeit in der Berufspraxis (etwa mit Auszubildenden des Berufs „Werbekaufleute“, künftig: Kaufleute im Marketing als IHK-Prüfer) stoße ich auf mögliche Diskrepanzen des Lehrens und Lernens mithilfe der „Neuen Medien“. Übrigens genau so interessant wie das Arbeiten mit Studierenden etwa der TU München: Der Übergang sozusagen von der Pädagogik auf die Andragogik…

Jedenfalls ist HvH (Jg. 1925!) keineswegs Bilderstürmer (oder ? Bildungsstürmer  …), vielmehr ein Pädagoge mit offenen Ohren und kritischem Blick. Seinen Mix aus Theorie (übrigens erst nachträglich erlernt, als er bereits als Lehrer im Einsatz war, im Nachkriegs-Deutschland!!) und jahrzehntelanger Praxis und Erfahrung fand ich hoch anregend. Zugleich erinnerte ich mich manches Mal an Otherland, wo Menschen virtuell nicht nur lernen, vielmehr sogar „leben“… Doch das ist wieder eine andere Geschichte, jedenfalls relativ anders (siehe etwa John Twelve Hawks Traveler)…

Ein anderes Thema von HvH sind „die Werte“: Sie treiben ja auch uns Trainer und Berater um – etwa inform von Zertifizierungen oder Gütesiegeln (beides via DVWO, dem Dachverband der Weiterbildungs-Organisationen, dem auch GABAL angehört). Oder ganz schlicht in unser aller Trainingsalltag, im Umgang mit Teilnehmern wie Auftraggebern. „Werte“ werden auch anderweitig diskutiert (siehe „Ego-Gesellschaft“ und soziales Engagement); auch hier gilt: Werte (Normen?) bei Erwachsenen zu verändern, ist ein schwieriges Geschäft. Wollen wir was? Ist das ethisch zulässig =dürfen wir das? Letztlich: Können wir das? HvH: „Nur in einer Lebensgemeinschaft – einem Internat, einem Landerziehungsheim, einer Klosterschule – kann dieser (Unterricht) nachhaltig in das Leben hinein wirken. „Werteerziehung“ verlangt nach der Schule als „Lebens- und Erfahrungsraum“, die es bei uns nur als Ausnahme gibt.“ Heißt was in Fortsetzung bei Erwachsenen? Nachhaltige Veränderungen (wenn überhaupt machbar und gewollt, siehe oben) sind sicherlich nicht durch einmalige kurzzeitige Seminare machbar: Begleitung ist gefordert, etwa durch Coaching, durch Führung mithilfe Interim Management (= Einsatz auf Zeit IM Unternehmen) oder zumindest Intervall-Trainings mit dauerhaften Feedback-Schleifen. HvH stellt auch die Frage nach notwendiger Ausbildung jener Menschen, die lehren (S. 75) oder nach dem Einsatz sozialer Gemeinschaften parallel zur Schule (Pfadfinder, Sommerlager…), „… in denen die Kinder und jungen Menschen das erfahren, was die Schule ihnen vorenthält: die Gemeinschaft, die Natur, das Abenteuer, die Arbeit, die nützliche Tat für andere.“ Oha, hier fällt einem doch gleich „Teambildung“ ein, Outdoor-Training… Dem Autor geht es um mehr als schlichte Übertragung auf Methoden: Er diskutiert ausführlich Religions- und Ethikunterricht und wägt zwischen diversen pädagogischen Konzepten ab. Als Reformpädagoge hat er über Jahrzehnte die Laborschule in Bielefeld geprägt.

Und das ist der dritte Band, den ich genossen habe: „Bildung – Ein Essay“, sozusagen als vorgezogene Hinterlassenschaft des HvH. Eingeteilt in …
 Geläufige Fragen
 Notwendige Klärungen
 Mögliche Maßstäbe
 Geeignete Anlässe
 Wünschenswerte Folgen
… breitet er Thesen durchaus provokativ aus, die unsererseits nachdenklich machen können. Unter dem Stichwort „4. Das Leben bildet“ diskutiert er Bildungsideale anhand von Daniel Defoes Robinson Crusoe. An anderer Stelle (S. 62 ff., unter „Alle Menschen sind der Bildung bedürftig und fähig“) zeigt er an einem konkreten Beispiel, was für ihn bildhafter und greifbarer Unterricht ist: Latein-Grammatik lernen anhand von Geschichten (fabulae), etwa auch Asterix und Obelix statt trockener Entwicklung von Regeln aus dem Grammatikbuch: Warum, fragte ich mich, ist derart wenig aus diesen Erlebnissen und Erkenntnissen inzwischen in den Schulalltag eingedrungen? – Doch Erwachsenenbildner können und müssen mehr davon nutzen. Weil wir alle am besten aus Konkretem lernen – etwa (die Zusammenstellung stammt von HvH, wenn auch im Inhaltsverzeichnis fehlend)
Geschichten – Gespräche – Sprache & Sprechen – Theater – Naturerfahrung – Politik – Arbeit – Feste feiern – Musik – Aufbruch. In „wünschenswerte Folgen“ setzt er sich letztlich auch mit dem „Lebenslangen Lernen“ auseinander (S. 149 ff.). Sein Programm für die Schule ist ein Manifest…

N.B. Auf HvH bin ich übrigens eher zufällig gestoßen – und froh darüber: Mir wurde „Fahrten und Gefährten“ geschenkt. Eine Art Autobiografie inform eines Aufarbeitens seines Reise-Lebens. Sein pädagogischer Blick als offenes, bereites Aufnehmen der Menschen anderer Kulturen hat mich begeistert: Ich habe nach der Lektüre den Band weiter verschenkt – an eine Hauptschul-Lehrerin, eingesetzt an einem „sozialen Brennpunkt“ – und immer noch motiviert und interessiert. Meine Empfehlung: Holen Sie sich einen HvH, egal welchen. Lesen Sie. Dann: Schau´n wir mal! Viel Vergnügen dabei…

Hanspeter Reiter