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Ein Sommer in Baden-Baden

Autor Leonid Zypkin
Verlag Aufbau
ISBN 978-3-351-03461-0

Der Fund des Buches, das als Meisterwerk gilt, ist Susan Sontag zu verdanken, die eine alte Ausgabe etwa Anfang der 1990er Jahre zufällig in einer Bücherkiste fand und den Roman (sowie beiläufig andere Schriften Leonid Zypkins) in ihrem Vorwort biographisch, zeitgeschichtlich und wegen des Schreibstils auch literarisch einordnet.

Der Autor (1926 bis 1982) ist Sohn russisch-jüdischer Eltern und überlebte (im Gegensatz zu vielen Familienmitgliedern; die Familie floh 1941 von Minsk bis zum Ural) stalinistischem und dem Terror Nazi-Deutschlands. Neben seiner beruflichen Tätigkeit als Pathologe in Moskau widmete er sich dem Schreiben, zunächst aus Furcht vor Zensur und Sanktionen, für die Schublade. Seine Werke wurden erst nach seinem Tod veröffentlicht.

„Ein Sommer in Baden-Baden“ führt den Leser in verschiedene Städte Deutschlands und der Sowjetunion, verschränkt Tatsachen mit Erfundenem sowie Gegenwart mit Vergangenheit – und zwar die seine mit jener seines Idols, Fjodor Dostojewskis, der mit seiner Gattin, Anna Grigorjewna, unterwegs ist. Die virtuos beschriebenen intrapsychischen Erregtheiten des Romancies, etwa beim Spielen oder in der Begegnung mit renommierten Literaten, die affektiven Expressionen und Handlungen reißen den Leser in einer Weise mit, die ihn das Geschilderte miterleben und zuweilen gleichsam atemlos werden oder den Atem anhalten lassen.

Die Assoziationen des im Zug durch die Nacht reisenden Erzählers, der in einem Tagebuch von Anna Grigorjewna liest, fordern die Konzentration des Lesers; denn es gibt keine Absätze (Struktur) und auch kaum Satzenden, und inhaltlich verquicken sie (die imaginierten und teils tatsächlichen) Erlebnisse und expressive Emotionalität des Romanciers, seiner Gattin und des Ehepaares mit Erinnerungen und Gegenwartsbezügen zu dem Leben des Autors und seines sozialen Umfeldes in der Realität der damaligen Sowjetunion.

Gegen Ende des Romans bringen Fotographien dem Leser Gebäude näher, die in einem engen Bezug zu Fjodor Dostojewski stehen.

Die Brücke über den Fluss.
ISBN 978 3 351 03460 3
ASIN 3351034601

Auch in diesem Werk, das erste Prosawerk, das als Novelle angelegt war, wie sein Sohn in seiner Nachbemerkung erwähnt, verschränkt Leonid Zypkin Gegenwart und Vergangenheit, Erinnerungen und Gegenwartsschilderungen, Enttäuschungen und Wünsche, dieses Mal im Rahmen des Lebens eines „Jungen“ („der Junge“) und doch erkenntlich im Rahmen eigener Erinnerungen und der aktuellen Lebenssituation.

Es ist „der Junge“, den der Erzähler schildern, fühlen, denken, reden, handeln lässt. Der Roman trägt unverkennbar autobiographische Züge, auch wenn Personen-, Städte- und Flussnamen verändert sind. Und auch in diesem Roman muss sich der Leser auf den hochgradig assoziativen Gedankenfluss einlassen, wenngleich es ab und zu Absätze, Dialogsequenzen und Kapitel gibt.
Sehr instruktiv ist die „Nachbemerkung“ des Sohnes, Michail Zypkin, der damit einer Anregung Susan Sontags folgte. Er bringt den Schriftsteller des Romans näher, als Persönlichkeit sowie im interaktiven Umfeld von Familie, Bekannten und beruflichen Kontexten, als auch im Roman genannte namentlich umbenannte Orte, die Michail Zypkin identifiziert (mit Fußnoten aus dem Text versehen, so dass der Leser rasch erkennt, worauf sich die Erläuterung bezieht).

Auch dieser Roman fordert Konzentration und mußevolle Hingabe, sowohl in Bezug auf den Schreibstil als auch hinsichtlich des Geschilderten, das keiner einfachen Chronologie folgt.

Leser, denen ein solcher Assoziationsstrom mit ihren verschiedenartigen Bezügen zu Zeit, Geschehen, Personen und Handeln, eher fremd ist, sei empfohlen, zuerst „Die Brücke über den Fluss“ zu lesen. Nach dieser Lektüre ist man vorbereitet für „Ein Sommer in Baden-Baden“.

Regina Mahlmann