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Klara und die Sonne

Autor Kazuo Ishiguro
Verlag Blessing
ISBN 978-3-896-67693-1

Alles Klara?!
Klara ist besonders. Klara ist beste Freundin. Klara hat eine existenzielle und religiöse Beziehung zur Sonne. Klara erzählt. Klara spricht stets in der dritten Person, etwas von „Managerin“ im Laden, von „Mutter“ in der Teilfamilie, von „Vater“, der eine ausschlaggebende Rolle einnehmen wird, von „Josie“, der Klara treu ergeben ist.
Klara ist eine KF. Klara ist die KF von Josie, einem kranken Mädchen. Josie hat Klara unter anderen KFs auserkoren, die ihre zu werden. Eine KF ist eine künstliche Freundin. Wer nun die Ausgeburt von Künstlicher Intelligenz in Klara erwartet, wartet vergebens. Klara kommt zwar mit Wissen (wie genau, wodurch genau, in welchem Umfang – das alles bleibt ungewiss) und der Fähigkeit zum Lernen daher. Und die unterschiedlichsten KFs und deren Serien unterscheiden sich in ihren Vorbedingungen, ihrem potenziellen Lernpensum, ihrer physischen Leistung durchaus. Klaras besondere Fertigkeit besteht darin, feinsinnig und vielfältig beobachten und diese Beobachtungen in Verbindung bringen zu können, sei es im eigenen Denken und Urteilen, sei es in der sozialen Interaktion. Josie, der Teenager, vertraut Klara vollkommen, ebenso wie – nach anfänglichem Zögern und einer speziellen Prüfung, deren Motiv später in der Erzählung nachvollziehbar wird – die Mutter.
KI & Gesellschaft
Der Autor thematisiert zentrale Aspekte gegenwärtigen Lebens in vorwiegend technisch entwickelten Gesellschaften. Etwa die an das Kastensystem, Stände- oder Schichtsystem erinnernde Unterscheidung von „gehobenen“ und „ungehobenen“ Bürgern mit ihren unterschiedlichen Lebensführungsoptionen; Umweltverschmutzung und Erkrankung; Lebenswirklichkeit und Lebenspotenzial. Und ganz besonders Künstliche Intelligenz und Menschen: Interaktionen, Beziehungsintensität, Sinnfragen, verdeutlicht in praktischen Zeichen von Freundschaft und Verantwortung im Horizont des Sinns (der Funktion) einer KI bzw. hier: KF und der Frage nach der Ersetzbarkeit bzw. „Fortsetzung“ eines konkreten Menschen für einen Menschen durch eine Maschine, die durchaus Empfindungen äußert und emotionale Ausdrucksweisen zeigt. Klaras Fähig- bzw. Fertigkeiten sind eng gekoppelt an das, was Josies Milieu ihr bietet. KFs sind nie fertig. Beide Teenager entwickeln sich mit- und aneinander: die KF sprachlich deutlich abgehoben, keinesfalls intellektuell und psychologisch-praktisch in allem überlegen, gleichzeitig überraschend originell denkend und agierend, und Josie, der menschliche Teenager von elf Jahren, auffällig reif für ihr Alter. Als Josies Krankheit befürchten lässt, dass sie stirbt, besinnt sich Klara auf die Sonne und teilopfert sich. Josies Leben ist verflochten mit dem ihres Nachbarn, Rick, einem ungehobenen. Die Mütter von Rick und Josie sind nicht nur Nachbarn, sondern enger befreundet. Josies Mutter lebt getrennt von dem Vater, der sich, als gehobener und als erfolgreicher Ingenieur, in andere Lebenswelt verabschiedet hat und dennoch sporadisch Josie besucht. Das Misstrauen Klara gegenüber erodiert mit dem Kennenlernen der Motivation der KF, Josie die „Besondere Kraft“ der Sonne heilend zugutekommen zu lassen – wofür Klara Vaters Hilfe benötigt.
Erwachsenwerden und der Autor
Klara begleitet Josie bis zum Sprung ins Erwachsensein. Eine KF ist eine Freundin auf Zeit. Und entgegen Mr. Capaldi, dem eine Schlüsselfunktion in Fragen von maschineller Leistungsfähigkeit einer KF zukommt – hier im Kontext familialen Lebens -, plädiert Mutter dafür, Klara kein forschungsbezogenes und damit abruptes Ende zuteilwerden zu lassen, sondern „Sie hat etwas Besseres verdient“ und dies bedeutet „ein langsames Verlöschen“. Klara ist Zeugin dieses Dialogs und weiß um all dies. Eine zarte Erzählung, die die eine oder andere inhaltlich-logische Lücke hat, der es dessen ungeachtet (weil es nicht relevant ist) gelingt, anhand der Interaktion einer Künstlichen Intelligenz als Freundin grundlegende Lebensmomente zu thematisieren. Wie insbesondere in dem Meisterwerk „The Remains of the Day“ (Was vom Tage übrigbleibt) pflegt der Kazuo Ishiguro, Nobelpreisträger für Literatur im Jahr 2017, einen ruhigen Stil, in inneren Monologen wie in Dialogen, gleichsam ein sanftes Dahinfließen in fast simpel scheinenden Schilderungen, die dem Niveau der erzählenden KF, ein heranreifender Teenager mit besonderen Fähig- und Fertigkeiten, entspricht. Philosophische und andere fundamentale Fragen werden dieser Sprache angepasst, ebenso wie Einsichten, die – aus der Perspektive der KF – für den menschlichen Leser zuweilen überraschend sind oder zumindest Aspekte ins Bewusstsein rufen, die ins Nichtbewusste gesickert waren. www.dr-mahlmann.de www.gabal.de Dr. Regina Mahlmann

Regina Mahlmann