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Der letzte Mensch

Autor Mary Shelley
Verlag Reclam
ISBN 978-3-15-011328-8

Dystopie und Apokalypse – fast 600 Seiten SciFi, neu übersetzt. Und nur gar zu arg passend zu „Zeiten wie diesen“, 2020/2021 … Mit „witzigen“ weiteren Anklängen zu aus Sicht Mitte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts künftigem Geschehen: Da gibt es Griechenland und seine Adeligen nahe zu Britannien (Prinz Philipp = von dort stammend … und gerade verstorben, während ich diese Rez. schreibe, zwei Monate vor seinem 100. Geburtstag…) – oder den Erzähler Lionel: So hieß jener Logopäde, der King George in den 1940er Jahren sanft und einfühlsam zu einigermaßen durchstandenen öffentlichen Auftritten zu entwickeln verstand (Sprach-Therapeut Lionel Logue, 1880-1953). Ach ja, auch das lange Leben von Queen Victoria (Königin von 1837-1901, inzwischen allerdings überrundet von ihrer Ur-Ur-Enkelin Elizabeth II.) scheint die Autorin voraus geahnt zu haben, in Person dann der Königin-Mutter im Roman…

Pandemie
… ließe sich das schreckliche Geschehen dieses Romans heutzutage benennen – doch bleibt es bei Begriffen der damaligen Zeit, mit Rückgriff auf Beschriebe voriger Pest-Ausbrüche. 250 Jahre in die Zukunft nimmt die Autorin ihre Leser mit, mit einem finalen Untergang der Menschheit mit dem Jahr 2100, jedenfalls als Letzt-Eintrag ins quasi Tagebuch des Erzählers: „Die Welt im 21. Jahrhundert: Eine neuartige und tödliche Seuche breitet sich aus. Sie hat verheerende Auswirkungen auf die Menschheit, auf Wirtschaft und Politik. Über allen schwebt eine Frage: Was ist angesichts einer weltweiten Krise der öffentlichen Gesundheit zu tun?“ Natürlich noch diesseits späterer Kenntnis von Übertragungswegen, die hier noch via Lust angenommen sind. Apropos, die spielt eh eine besondere Rolle, ist das einzig moderne Fortbewegungsmittel doch der – Ballon, ähnlich im Einsatz wie später tatsächlich das Auto. Ansonsten hält Shelley sich mit Technik-Visionen zurück, mit Ausnahme von nur angedeuteten Maschinen in der Landwirtschaft, die für ausreichend Nahrungsmittel sorgen… Das geschieht, kurz gefasst: „Shelleys Roman von 1826, die allererste Dystopie der Weltliteratur, liest sich beklemmend gegenwärtig. Die Erzählung folgt Lionel Verney, der sich mit seiner Schwester und seinen Freunden zunächst in der jungen englischen Republik politisch engagiert. Sie machen sich auf nach Griechenland, und im Süden geraten sie erstmals in Kontakt mit einer neuartigen Pest, die sich nach und nach in Europa und Nordamerika ausbreitet. Bald herrschen in England apokalyptische Zustände. Den Freunden und ihren Familien bleibt nur die Flucht …“, die die Überlebenden via Frankreich, Italien und Griechenland erneut nach Konstantinopel bringt, dem scheinbaren Ausgangspunkt der Seuche – und die letzten Überlebenden wieder nach Italien zurück.

Dystopie
… ist das Genre, zu dem dieser (Zukunfts-?)Roman am ehesten passt – obwohl kaum die erste der Weltliteratur, wie benannt. Erfreulich die ergänzenden Erläuterungen im Anschluss, einmal von der Quasi-Herausgeberin Rebekka Rohleder (Nachwort: Pest und Politik, S. 560ff.) und dem Essay von Dietmar Dath (Das Einzelherz verallgemeinern, S. 572ff.), seines Zeichens höchst vielseitiger Autor, der sich auch mit Science-fiction einlässt – bis hin zu Graphic Novel: Nur konsequent, dass er auch Vergleichs-Publikationen aus dem Comic-Superhelden-Genre zitiert (zu Androiden, S. 576f.). Beide fokussieren die primären gesellschaftskritischen Aspekte von „Der letzte Mensch“, diskutiert findet Leser auch Vergleiche mit den anderen Romanen der Autorin (neben „Frankensteins Monster“ durchaus weitere, weniger bekannte) sowie mit autobiografischen Zügen via Personen ihres Umfelds (früh verstorbener Ehemann plus Byron) – und die Frage der Frauen-Figuren hier wie dort. Ein zugleich informatives Schlaglicht also der Literaturgeschichte, weit über aktuelle Bezüge hinaus. HPR www.dialogprofi.de www.gabal.de

Hanspeter Reiter