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„Luhmann Lektüren“ und „Was tun, Herr Luhmann?“

Baecker, D., N. Bolz, P. Fuchs, H.U. Gumbrecht, P. Sloterdijk, hrsg. v. W. Burckhardt, Luhmann Lektüren. Kulturverlag Kadmos Berlin 2010, 10 3 86599 113 0, 13 978 3 86599 113 3

Hagen, Wolfgang (Hg.), Was tun, Herr Luhmann? Vorletzte Gespräche mit Niklas Luhmann. Kulturverlag Kadmos Berlin 2010,978 3 93165998 1

Die beiden Reader des Kulturverlages geben Anlass zur Freude. Der erst genannte Band vereinigt Aufsätze von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen, die vor rund 10 Jahren und meist in Verbindung mit dem Tod des großen Soziologen publiziert wurden. Die Aufsätze kreisen um die soziologische Systemtheorie Luhmanns. Leser, die mit dem Denken Luhmanns gänzlich unvertraut sind, finden hier trotz manch erklärender und skizzenhaft die Entwicklung der Luhmannschen Theorie zeichnenden Ausführungen keine Einführung. Die Aufsätze, besonders die kritischen und jene, die die Luhmannsche Systemtheorie auf nicht-soziologische Felder wie Kunst, vor allem Literatur, anwenden. Interessant und geistreich sind alle Beiträge, der eine oder andere mit einem kleineren oder größeren Überraschungseffekt oder einer besonderen Pointe.

Dirk Baecker, dessen Namen vorzugsweise mit dem Anwendungsfeld „Wirtschaft und Management“ verbunden ist, widmet sich in seiner Zeichnung der Entwicklungsepochen Luhmanns Denken dem Feld des Managements; Norbert Bolz erweist die Debatte zwischen den zwei prominenten Sozialphilosophen bzw.Soziologen Jürgen Habermas und Niklas Luhmann als „Phantomdebatte“ – und provoziert damit gewiss Anhänger. Peter Fuch beleuchtet die „Metapher des Systems“ und stellt Überlegungen dafür an, wie sie (was im wissenschaftlichen wie medialen Feld bereits geschieht) fruchtbar gemacht werden kann für „die Gesellschaftstheorie im dritten Jahrtausen“. Hans Ulrich Gumbrecht legt die von Luhmann häufig nicht genannten oder gar verweigerten geistigen Wurzeln in der philosophischen Tradition des alten Europas frei, und Peter Sloterdijk, dessen Artikel den größten Raum einnimmt, erregt die Neuronen in gewohnt provokanter Manier, in dem er „Luhmann, Anwalt des Teufels“ nennt und sich über philosophische Etappen vorarbeitet zu einem Gedankenbogen „von der Erbsünde, dem Egoismus der Systeme und den neuen Ironien“.

Die Aufsätze inhaltlich zu diskutieren, verbietet sich, weil dies ein eigener Essay würde. Vor allem aber aus diesem Grund: Lesen und denken Sie bitte selbst. Eingedenk des Alters der Aufsätze und der diversen Seitenarme, die die Systemtheorie seitdem gebildet und die Anwendungsversuche, die sie seitdem erlebt hat, stellt sich die Frage, warum der Verlag solange gewartet hat. Es stellt sich keinesfalls die Frage, ob die Beiträge noch des Lesens wert seien. Scharfsinn und Geistesreichtum verjähren nicht, und von beidem bietet jeder Aufsatz reichlich; einschließlich des Vorworts des Herausgebers Wolfram Burckhardts und seiner Zusammenfassung eines nicht abgedruckten Vortrages des inzwischen verstorbenen Germanisten Dietrich Schwanitz, der Luhmann und Shakespeare mit der Kategorie der Beobachtung der Beobachtung zusammen bringt und dank dieser die Teilung der Welt herbeiführt.

Ähnliches gilt für das Bändchen: „Was tun, Herr Luhmann?“ Es versammelt Interviews mit dem Soziologen und ein Gespräch über ihn– und wer, wie die Rezensentin, Niklas Luhmann in der Lehre und im direkten Gespräch hat erleben dürfen, kann ermessen, inwiefern sein Witz und sein pointenreicher Humor in diesen Interviews eingefangen ist. Eine nicht nur lehrreiche, von Gedankenblitzen erhellte, sondern auch eine äußerst vergnügliche Lektüre – die vor allem wiederum diejenigen genießen können, die die Grundzüge seiner Systemtheorie kennen.

Die Interviews fragen nach Luhmanns Einschätzung zur Systemtheorie in der soziologischen Disziplin im Besonderen und nach der Rolle der Letzteren im Allgemeinen; sie thematisieren die theoretische zentrale Kategorie und Handlung der Entscheidung und ihren Auswirkungen, ihrer Stellung oder Funktion als Bedingung der Möglichkeit für Zukunft; sie oszillieren um die Kontroverse, inwiefern es „Wahrheit“ geben kann oder nicht (Ontologie, Konstruktivismus) und ob und wenn ja, in welchen Kontexten, wenn nein, inwiefern nicht sie „zentral“ ist. Die Frage „Gibt es Kunst außerhalb der Kunst?“ entzündet sich an der „Alternativformulierung“ der bekannten System-Umwelt oder Umwelt-System-Differenz, nämlich der Differenz zwischen Form und Medium, und wird auf ihre besondere Nützlichkeit (Erkenntnisgewinn, Kunsttheorie, Kunstphilosophie). Das gekürzte Interview mit dem Titel „OFF“ dekliniert zwar zentrale Begriffe der Luhmannschen Theorie, allerdings in kritischer und auf schwache Stellen abklopfenden und in nicht in zusammenfassender Absicht (wenn auch –gerade für jene, die sich mit der Luhmannschen Theorie eher an der Oberfläche befasst haben – außerordentlich instruktiv). Das Gespräch über Niklas Luhmann spricht im Titel einen unter Anhängern und Skeptikern seit den 80er Jahren entbrannten Streit an: „Was ist Politik“ – oder war Luhmann doch unpolitisch?“.

Die Reihenfolge der Lektüre dieser beiden Bände ist irrelevant – bedeutsam ist, dass die Bände zahlreiche Leser finden, und zwar schon allein deshalb, weil einige Aufsätze in auch (!) unterhaltender Weise und damit mit einem Augenzwinkern zu dem auffordern, nein: nötigen, was heute – nach Meinung der Rezensentin – häufig zu kurz kommt und was wir dennoch immer mehr benötigen, um der Komplexität dieser unserer Lebenswelt (ein Begriff aus der philosophischen Phänomenologie, durch Jürgen Habermas popularisiert) einigermaßen beizukommen (mit und in ihr handlungsfähig sein), sei es dadurch, dass wir Komplexität erhöhen oder dadurch, dass wir sie reduzieren: Denken, angewandter Scharfsinn

Dr. Regina Mahlmann
www.dr-mahlmann.de
info@dr-mahlmann.de
 

Dr. Regina Mahlmann