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Das Lemming-Projekt

Autor Wolfgang Kaes
Verlag Rowohlt Polaris
ISBN 978-3-499-00610-4

„Was du denkst. Was du fühlst. Wer entscheidet das?“ geht ein wenig in Richtung der Diskussion rund um den „freien Willen“ und holt Anleihen aus den Neuro-Wissenschaften. Will sagen, kommt fast als Dokufiktion daher, auf deutlich über 400 Seiten spannender Lektüre, die durchaus nachdenklich macht… Wobei das mit den Lemmingen ja eher Mythos ist denn Fakt, von wegen einer dem anderen nachlaufend uns sich ins Unglück stürzen. Nun ja, im Grunde tun das die Protagonisten durchaus, teils jedenfalls…

Alles sauber?
Die Frage stellt sich den Akkord-Arbeitern, die Hass-Botschaften & Co. aus „dem Internet“ entfernen sollen – vordergründig jedenfalls… „Frigiliana, ein idyllisches Dorf in Andalusien. Hier lebt Alejandro. Der junge Kunsthistoriker säubert im Auftrag der Firma CleanContent das Internet vom digitalen Giftmüll, von Pornographie, Hass und Gewalt.“ Zu entscheiden ist in Sekunden-Bruchteilen, ob der aufpoppende Inhalt zu ignorieren oder zu löschen ist, ziemlich binär also (siehe S. 30f. zu den Kriterien und viele weitere). „Als sich seine Kollegin Maria von einer Brücke stürzt, wird Alejandro klar, dass sein Job nicht nur brutal, sondern lebensgefährlich ist. Dann tauchen auf seinem Bildschirm Fotos auf, die verschüttete Erinnerungen wecken und seine Mutter in Panik versetzen. Jemand will ihm Angst machen. Doch Alejandro lässt sich nicht einschüchtern. Bald steht er vor einem Grab auf einem Friedhof aus der Zeit der Franco-Diktatur, als die katholische Kirche noch allmächtig war, und damit beginnt die Suche nach der Wahrheit.“ Mit Rückblicken wie S. 80ff., auch zur Rolle des damaligen Königs. „Sie wird mit jedem Tag gefährlicher, denn Alejandros unsichtbarer Gegner ist mächtig: Er hat die Macht, in die Seelen der Menschen zu dringen…“ oder eher in deren Geist?! Ein interessanter Mix aus Blick in die Vergangenheit (siehe „Besserungsanstalten“ in der Franco-Zeit S. 156ff.), nachdenklich machend für die Gegenwart – und ein angedeutet dystopisches Reinhören in eine nur allzu mögliche Zukunft… Unterhaltsam wie informativ! Mit interessanten Überlegungen, etwa outgesourcte Billig-Arbeiten nach Europa zurück zu holen (S. 100ff. etc.) – wobei hier durchaus noch andere Ziele verfolgt werden. Der Blick auf die Rolle auch der Medien mag Leser auch interessieren (Qualitäts-Journalismus etc., S. 270f., auch S. 418f. usw.). Der Autor richtet in seinem Nachwort auch den Blick auf Corona (S. 427f.) – geschrieben ist das Buch vorm Ausbruch. HPR www.dialogprofi.de www.gabal.de

Hanspeter Reiter