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Bewusstsein. Die ersten 4 Milliarden Jahre

Autor Joseph Le Doux
Verlag Klett-Cotta
ISBN 978-3-608-98331-9

Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Was Bewusstsein „ist“ (ontologischer Status) und wie es geworden ist (evolutionäre Herleitung) kann auch der amerikanische Neurowissenschaftler Josef LeDoux nicht erklären. Der Sprung von der beschreibenden evolutionären Herleitung (Entwicklungsgeschichte vom Urknall über Mikroorganismen, über erste Lebewesen bis zum Menschen) zur Qualia, der Nichtmaterie oder dem neurobiologischen, neurophysiologischen Messbaren (auch als Korrelat oder Bedingung der Möglichkeit von Bewusstsein angenommen), zur Eigenschaft, dem Wesen von menschlichem Bewusstseins und damit seiner Genese bleibt unbekannt.

Emergenz? Mutation!
Philosophen sprechen gern von „Emergenz“, wenn sie einen qualitativen Sprung in Neues oder „Höheres“ „erklären“ möchten; LeDoux greift zu der Formel „Mutation“, eingebettet in das evolutionäre Muster von Anpassung(snotwendigkeit). LeDoux diskutiert einen wesentlichen Aspekt der Kontroverse unter dem Begriff des phänomenalen Bewusstseins mit subjektiver Qualia als Ergebnis vorbewusster Prozesse und mit Verweis aus verschiedene Verständnisweisen von „Bewusstsein“, einschließlich der Frage nach materiellen Prozessen als Bedingung der Möglichkeit (z.B. S. 294ff) und stellt die Entstehung von Bewusstsein in Kapitel 55 „Die Erfindung des Erlebens“ zusätzlich in einen Bedingungskontext mit Gedächtnis, Erinnerung. Wo Bewusstsein thematisiert wird, dürfen Fühlen bzw. Emotionen nicht fehlen (explizit in Kapitel 64: „Nachdenkliche Gefühle“). Im Einklang mit einer der debattierten Strömungen versteht LeDoux Fühlen als primär biologisch hergestellt, während Emotion Kognition voraussetzt: als Attribution zu Fühlprozessen oder Gefühlen und dank der evolutionär vorbereiteten „Fähigkeit, interne Repräsentationen zu bilden. Das würde bedeuten, dass …. Emotionen womöglich erst nach der Kognition aufkamen.“ (S. 244) Emotionen sind also kognitiv konstruiert und „eine Form der Kognition“ (ebd.).

Deliberation
In diesem Zusammenhang, in dem er auch Sprache thematisiert, führt LeDoux den Begriff der „Deliberation“ ein, auf den Kognition als Terminus und Fähigkeit bezogen ist (Kap. 45). In Kurzform meint Deliberation reflexives (abwägendes, primär denkendes, rationales, zielorientiertes) Handeln, das sich an Konzeptbildung, Schemata (als „Bausteine der Kognition“, S. 378), mentalen Modellen orientiert. Auch diese Entwicklung verortet der Autor in evolutionären Entwicklungsprozessen und Beziehungen neuronaler Netzwerke („konzeptueller Schaltkreise“), neurobiologisch, -physiologisch und -psychologisch her (ausführlich in Kapitel 66: „Überleben dauert lange Zeit – Emotionen sind flüchtige Augenblicke“, die dem Überleben dienen – eine Funktionalität, die rekonstruiert ist und gleichzeitig als Grund für das Entstehen von Emotionen gilt). Jedoch bleibt auch nach diesen Ausführungen das Manko, dass die „Erklärung“ den oben genannten Hiatus nicht überwinden kann: Wie entsteht aus Quantität/Materie Qualität/ Eigenschaft oder Wesen?

So bleibt LeDoux am Schluss seiner durchaus lehr- und inspirationsreichen Darstellung mit Blick auf ein langfristiges Überleben der Menschheit nur der Respekt von der Leistungsfähigkeit des Bewusstseins, seiner Ausformung dank biologischer und kultureller Evolution: „Als Individuen überleben wir nur, wenn wir als Art überleben. Die biologische Evolution wird uns nicht retten, dafür ist die Zeit zu knapp…..Daher müssen wir auf schnellere Wege der Veränderung ausweichen – die kognitive und die kulturelle Evolution, die auf unseren autonoetischen Gehirnen gründen“, also auf Selbst- Reflexion, auf „Bewusstsein“ (S. 408) HPR www.dialogprofi.de www.gabal.de

Hanspeter Reiter