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Lesen

Autor Dehaene, Stanislas
Verlag sonstige
Seiten 448 Seiten
ISBN 978-3-8135-0383-8
Preis 24,99

Der französische Titel des Buches lautet: Les Neurones de la lecture. Diese Version trägt die Herangehensweise an das Phänomen Lesen im Titel: die neurobiologische und neuropsychologische. Der Autor, Mathematiker, Psychologe und „einer der weltweit führenden Kognitionswissenschaftler“ und Lehrstuhlinhaber für Experimentelle Wahrnehmungspsychologie geht evolutions- und neurobiologisch der leitenden Frage nach, wie unser Gehirn zu seiner Lesekompetenz gelangt und wie es dabei operiert. Eine höchst lesenswerte (!) Lektüre.

Denn unser Gehirn ist von seiner Natur her nicht fürs Lesen gemacht, sondern muss es lernen. Also stellt sich die Frage, wie es dazu kam, welche Areale es wie aktiviert, welche Ursprungsfunktionen umfunktioniert, erweitert, spezialisiert werden. Lesen ist mithin eine kulturelle Errungenschaft, eine Leistung der kulturellen Evolution. Die Hauptthese von Stanislas Dehaene weicht von dem eher kulturwissenschaftlichen, anthropologischen und soziologischen Blickwinkel ab.

Seine These lautet: Das Gehirn ist nicht beliebig formbar – die Betonung liegt auf „beliebig“. Sondern: Unser Gehirn erlaubt innerhalb seiner plastischen Grenzen seine eigenen Leistungen. Wir können nur lernen, was seine Konstitution und Funktion vorgibt. Lesen tut es mit vorhandenen Schaltkreisen, und das Entschlüsseln von Worten erfolgt in allen Sprachen (!) mit derselben Gehirnregion und denselben Schaltkreisen. In Kurzform: Unser Gehirn steht in Wechselwirkung der Kultur und passt sich kulturellen Veränderungen an – aber ausschließlich mit alten und nicht etwa neuartigen Schaltkreisen. Es fabriziert Neues mit Altem. Schrift und Lesen haben sich nach Maßgabe unser neuronalen oder zerebralen Optionen entwickelt.

Dass unsere Biologie den kulturellen Leistungen Bedingung und Möglichkeiten vorgibt, belegt der Autor mit eigenen und mit Forschungen anderer Wissenschaftler aus den Gebieten Biologie, Psychologie und Neurowissenschaften. Akribisch und in sehr verständlicher Form geht er Buchstabenentwicklung und –erkennung über Lexikon, Grammatik, Orthographie bis zu Syntax; auch Phonologie, Laute und deren Wahrnehmung, die Übersetzung von Lauten in Lesen und umgekehrt, den Lesevorgang vom Auge bis zum Hirn (Bedeutung, Verstehen) erklärt er ausgiebig. Detailliert schildert er die jeweiligen Operationen, die unser Gehirn dabei vollzieht. Innerhalb dieser Schilderungen geht er auf Laut- und Schriftsysteme ein, behandelt Schädigungen, die in Lese- und Schreibschwächen münden, und gibt Hinweise auf den Stand der Forschung zu diesen Themen.

Da er seine These als ungewöhnlich in der scientific community betrachtet, erhellt der Autor den Leser auch mit dieser theoretisch-ideologischen Debatte. Die Abgrenzung, die er scharf zieht, sind rein kulturwissenschaftliche Erklärungsversuche für unsere Lesekompetenz, die Stanislas Dehaene als „Paradox des Lesens“ bezeichnet. Diesen rein geistes- und sozialwissenschaftlichen Erklärungsversuchen unterstellt er die Annahme, unser Gehirn sei beliebig plastisch und bringe Kompetenzen hervor, die biologisch weder disponiert noch verwurzelt seien. Seine oben genannte These bildet den Fokus, der sich durch seine Argumentation und Forschungsbelege zieht. Das tut er keinesfalls dogmatisch und engstirnig, sondern diskutiert auch empirische und experimentelle Ergebnisse, die seiner These zuwiderlaufen, an ihr rütteln oder schlicht noch vorläufig sind und daher keine exakte Aussage zulassen.

Sein Fazit: „Am Ende unserer Reise durch das Gehirn erscheint das Lesen zugleich als Ergebnis der Evolution des Menschen und als einer der entscheidenden Gründe für die kulturelle Explosion.“ (S. 377) Mit diesem Fazit können sich viele seiner „Gegner“ sicher einverstanden erklären, zum Beispiel auch Maryanne Wolf, die einer primär kulturhistorische und sozusagen sozio-neurowissenschaftliche Herleitung der Lesekompetenz vorgelegt hat.

Den Schluss des Buches überlässt der Autor dem Humanisten Jacques Amyot – und dieses Zitat gilt als meine Beurteilung der Lektüre dieses materialreichen Buches:
„Lektüre, die zugleich gefällt und nützt, ergötzt und belehrt, hat alles, was man sich wünschen kann.“

Dr. Regina Mahlmann, www.dr-mahlmann.de

Dr. Regina Mahlmann