Wie Nietzsche aus der Kälte kam: Geschichte einer Rettung.
Autor | Philipp Felsch |
Verlag | C.H.Beck |
ISBN | 978-3-406-77701-1 |
Nach Beendigung der Lektüre dieses Buches des Kulturwissenschaftlers Philipp Felsch (im Geist seines höchst anregenden Buches „Der lange Sommer der Theorie“) und eingedenk der seit einigen Jahren geführten, (bildungs-) politische, gesellschaftliche Interventionen und Spuren im Gefolge führenden Kontroversen rund um racial theory und Identitätspolitik wird sich der eine und andere Leser fragen, inwiefern man im geistes- und kulturwissenschaftlichen Bereich von einer Wissenschaft sprechen kann oder – eingedenk des „anything goes“ von Paul Feyerabend – von ideologischen und damit von Glaubenssystemen sprechen muss, die über das jeweilige Milieu hinaus gesellschaftspraktische Folgen zeitigen. Auch die linguistische Redeweise von „Lesarten“ nährt die Skepsis von Wissenschaftlichkeit insofern, als es grundlegende persönliche weltanschauliche Überzeugungen und andere subjektive, auch biographisch gebahnte Quasi-Axiome, sind, die die jeweilige Deutung von Werken maßgeblich mitbestimmen.
Eben dies und noch einiges mehr: die historisch-politische Verankerung von Denk- und Handlungsweisen von Personen, die jeweils zeithistorisch spezielle politische Einbettung und sozio-kulturelle Atmosphäre, die Vermischung beider Sphären und ihren Ausfluss in universitäre und intellektuelle Zirkel bis hin zu Bedingungen und Praktiken von Werkausgaben, hier: jener von Friedrich Nietzsche – insbesondere diese Facetten kann man anlässlich der spannend zu lesenden Ausführungen finden und als repräsentativ im obigen Sinn überdenken.
Worum geht es? In Kürzestform: um eine Reise von Hingabe an einen Wahrheitsglauben, um Auslegung, Deutung, Konstruktion, begonnen bei dem Anspruch rein philologischer Arbeit an Wort und anderen Schrift- und Lautzeichen in Nietzsches Schriften (veröffentlichten und unveröffentlichten) von zwei italienischen Auslegungsexperten, um idealistische bis metaphysisch-mystische, Stefan George-nahe Kontextuierung, um Linksnietzscheanismus in Theorie und Praxis (Nietzsche, Freud, Marx), über die weitere Etappe postmoderner konstruktivistischer, diskurstheoretischer Deutungsansätze und Auflösung (Dekonstruktion) durch französische Intellektuelle/ Philosophen, um vorläufig angekommen zu sein bei einer Neu-Edition, einer Art Kompromissansatz, der sich in „einer merkwürdigen Parallelaktion“ anbahnt seitens Basler Stroemfeld und Göttinger Steidl Verlag, die „je eine weitere Nietzsche-Ausgabe“ 2013 an(kündigen)“ (Felsch S. 220).
Kompromisshaft insofern, als die Neu-Edition mit einer Absage an den diskurstheoretischen, dekonstruierenden Ansatz der französischen Intellektuellen wie Deleuze und Foucault verbunden ist mit einer Hinwendung zu einer Auslegung, die sich näher am Autor bewegt, an seinen Schriften und ohne Nachlass, um unter anderem für Leser lesbar zu sein, ohne die Unübersichtlichkeit editorischer Notizen und unter Absehen philologischer Hybris, die sich darin äußerte, man könne Nietzsche verstehen, ohne interpretatorische Konnotationen, Detonationen, frei von Kontextvariablen. Philipp Felsch überlässt Peter Sloterdijk das letzte Wort angesichts unterschiedlicher Kombinatoriken, die die Auslegungsgeschichte begleitet: „Wenn wir jetzt mit der neuen Werkausgabe den Versuch machen, Nietzsche als Autor und Werkschöpfer in Erinnerung zu rufen, dann liegt darin schon die Korrektur der selbstherrlich gewordenen Dekonstruktion. Man muss Nietzsche nur richtig editieren, schon zieht sich das Bild von selbst zurecht.“ Dies, so Philipp Felsch, wäre von einem seiner zwei Protagonisten, namentlich Montinari, „wahrscheinlich mit einem Achselzucken quittiert“ worden (S: 222).
Philipp Felsch schreibt die Rettung Nietzsches den zwei italienischen Philologen Mazzino Montinari und Giorgio Colli, Schüler und Lehrer, zu, die trotz der skizzierten biographischen Gabelungen und Entfremdungsphasen in der Faszination von Nietzsches Schriften und dem Anspruch, ihn richtig zu verstehen, über Jahrzehnte vereint bleiben. Beide widmen nahezu ihr gesamtes Philologenleben, wenn auch aus verschiedenen Motiven, öffentlich zugänglichen und verborgenen Schriften des Philosophen. Sie, insbesondere Montinari, widmen sich dem Werk in akribischer philologischer Kleinarbeit. Das Ideal: Freiheit von Deutung, indem sie gleichsam jedes Wort, Satzzeichen, jede „Kritzelei“ philologisch untersuchen und verbinden.
Sie retten Nietzsche damit nicht zuletzt aus den Fängen seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, die als Nachlassverwalterin Hand anlegte an Schriften des Bruders, insbesondere das vermeintliche Hauptwerk „Willen zur Macht“ nationalsozialistisch affin bearbeitet und damit das Fundament legt für jene Interpreten, die in Nietzsche einen Wegebereiter des Nationalsozialismus sahen. Dass dieser angebliche Grundton inzwischen als nicht mehr begründbar gilt, ist maßgeblich der philologischen Arbeit von Mazzino Montinari und Giorgio Colli zu verdanken und ihrer wissenschaftlich bedeutsamen kritischen Ausgabe (daran können auch einige Fehler nichts ändern).
Der philologischen Arbeit der beiden ist zudem die Rettung vor den Postmodernisten zu verdanken, von Philipp Felsch aufgehängt an ein Nietzsche-Kolloquium nahe Paris im Jahr 1964, auf dem die beiden Philologen noch Außenseiter waren, und sich offenbarend schlussendlich in den Neu-Editionen, die, salopp formuliert, aus den spannend zu lesenden verschiedenen Denkwelten Facetten nehmen, um Nietzsche angemessen zu editieren: sowohl im Namen von Nietzsche als auch im Namen von Lesern.
Die Pfade, die die zwei Protagonisten gehen, verknüpfen Arbeit und Leben ebenso wie die Öffnung für Repräsentanten und deren Lebensformen und Denkweisen im Horizont des Posthistoire. In Erinnerung bleibt vermutlich nicht zuletzt deshalb der Lebens- und Arbeitslauf des Kommunisten Mazzino Montinari (mit Aufenthalten in Weimar, mehrjährigem Aufenthalt in der DDR, Heirat einer Deutschen, mit der er nach Italien umzieht, kommunistischem Engagement).
Die Lektüre lohnt über die geschichtliche Nachzeichnung hinaus; denn sie reicht bis in die
Gegenwart. Philip Felsch versteht es auch in diesem Buch, den Leser zu fesseln.