Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet
Autor | John McWhorter |
Verlag | HoCa |
ISBN | 978-3-455-01297-2 |
„Dieses Buch ist all jenen gewidmet, die es in sich haben, gegendiesen Irrweg in der intellektuellen, kulturellen und moralischen Entwicklung der Menschheit aufzubegehren.“ John McWhorter
Mit Verve und einer Empörung und einem Entsetzen, die einer gesellschaftspolitischen Verantwortung entspringen, die der Autor empfindet und für die er argumentiert und polemisiert, illustriert und exemplifiziert, folgt man John McWhorter auf seinem Parcours auf US-amerikanischem Boden. Auf diesem Rundlauf deckt er sowohl paradigmatisch bedingte als auch modisch-trendig bedingte Unvernünftigkeit bis fanatische Bezogenheit jener Gläubigen ab, die maßgeblich für eine Wiederbelebung von Rassismus, Ideologie, politisch durchdringender Religiosität und Sektierertum bis hin zu Fanatismus sorgt und unüberbrückbare Gräben baut. Denn die vernunft- und realitätsblinden Anhänger lassen keinen Steg zu den Ungläubigen und Gegnern jener identitätsideologischen Glaubensüberzeugungen. Der Autor bedauert diese gesellschaftlichen Grund- und Kernkonsens zerstörende Entwicklung, die ein Gemeinschaftsempfinden als Bedingung der Möglichkeit gesellschaftlichen Friedens nicht zulässt, zutiefst.
Folgt man den Ausführungen, hat die deutsche Übersetzung den Originaltitel aufgeweicht (ein Schelm, der dies mitzurückführt auf den Kotau vor der vom Autor bekämpften Ideologie). Er lautete treffender: „Die Selbsterwählten“, und vor „Antirassismus“ könnte, im Sinn der Ausführungen, auch „Rassismus“ stehen; denn die Überzeugungen schaden – unter anderen – den „Schwarzen“ bzw. People of Color. Diese provozierenden Veränderungen träfen die Rhetorik des Autors durchaus – und wären nahe dem Originaltitel: „Woke Racism. How A Neu Religion Has Betrayed Black America.“ (2021)
Er bewegt sich zwischen Polemik und Essay, zwischen sachlichen Berichten und kompromisslosen Analysen und herausfordernden Fragen, insbesondere an jene, die sich dem ideologischen Furor nicht nur nicht stellen, sondern ihm erliegen und fördern. Denn es geht um Menschen (und Gruppen), die sich selbst dazu erwählt haben, moralisch, normativ, ideologisch auf der Seite von so genannten Opfern zu agitieren – nach Maßgabe ihrer eigenen Parameter. Sie attribuieren, und alle, Betroffene, Sympathisanten, Gegner sollen den Referenzrahmen schlicht akzeptieren. Die Selbsterwählten sind zudem, als geschlossener Zirkel von Gleichgläubigen, dazu erwählt (sprich: befugt), andere erwählen zu können. Der Autor spricht von Atavismus und Manichäismus, von Religion und Sekte, von Gläubigen bis Fanatikern (letztere Etikettierung stammt nicht von ihm, sondern von Politikwissenschaftlerin Nina Scholz (FAZ 17.08.2022), die sich zwar nicht auf dieselbe Gruppe von Glaubensrittern bezieht wie McWorther, aber dasselbe Paradigma „verletzter Gefühle“ behandelt.
Womit zunächst eine Strukturanalogie thematisiert ist: zwischen Ideologen und Glaubensbekennern jedweder Richtung (eingängig hier die Konfliktlinie zwischen Biologen und Konstruktivisten rund um Sex und Gender mit Einflüssen auf Sprachregeln und -gebrauch), einschließlich der In- Outgroup-Dynamik. John McWhorter hebt immer wieder hervor, dass die Selbsterwählten die Bedingungen des Zugangs zum eigenen Zirkel strikt moralistisch-sektiererisch definieren; dass sie einer psychologisch erklärbaren Lust an Demutsgesten frönen, die gepaart ist mit Überlegenheitsüberzeugungen (über alle, die anderen Glaubens sind); dass sie Argument gegen Gefühl und Moral tauschen, das Darlegen von Gründen als folgerichtige, konsistente Beweisführung für obsolet erklären und durch pure Behauptung und emotional-moralistisch Schuldhaftigkeit suggierende Rhetorik und hochgezogene Augenbrauen ersetzen. Rückfall in Vormoderne und Voraufklärung im Sinn von Gleichwertigkeit aller Menschen und vernunftbetonter Argumentation.
Der Autor bezieht sich auf die amerikanische Gesellschaft; seine Ausführungen sind, zuweilen bis in Beispiele, Fallschilderungen hinein, zumindest auf die sich selbst demokratisch nennenden westlichen Gesellschaften übertragbar. Insbesondere, um leicht zugängliche Tagespressequellen zu nennen, aus Großbritannien (Gina Thomas von FAZ berichtet seit Jahren), auf Frankreich und auch auf die Bundesrepublik (hier sind insbesondere die Beiträge von Thomas Thiel von der FAZ zu nennen, die auch strukturanaloge Themenbereiche bedienen wie Gender-, Sprachideologie, Cancel Culture, Islamismus, Judenfeindlichkeit). Die genannten Autoren exemplifizieren das Grundmuster, gegen das McWhorter mit immer wieder neuen Volten, materialreich und argumentierend angeht, rhetorisch pointiert, analytisch, und stets die Nebenfolgen im Blick, die seine Gegnerschaft anzünden. Und zuweilen voller Verständnis für die Selbsterwählten – allerdings mit dem bemitleidender Tonalität eines Pädagogen, Psychologen, Intellektuellen, der zu schlichten Gemütern und schlichten Geistern spricht.
Anhand von Berichten, zahlreichen Beispielen, anhand von populären Büchern von so genannten „Gurus“ aus dem Milieu der Selbsterwählten dekliniert er, dass, inwiefern und mit welchen Begleiterscheinungen die Selbsterwählten gerade nicht antirassistisch sind, sondern rassistisch, ausgrenzend und kollektivistisch; dass sie religiös und sektenhaft und damit exkludierend agieren, c) dass sie – psychologistisch gedeutet – die Lust an der Unterwerfung mit Überlegenheitsmimik, -gestus-, -rhetorik aufgrund persönlicher Bedürfnisse nach Anerkennung, Zugehörigkeit, Sinnlückenfüllung zu erhalten trachten; dass diese Sehnsucht nach persönlicher Besonderheit, Lust an Büßergesten genährt wird durch Mythen rund um Kolonialismus, Sklavenhandel, institutionalisierter und selbst individuell unbewusster Diskriminierung und dieses Gemisch an zur Gefahr gesellschaftlicher Implosion oder Explosion geworden ist.
In der Kontroverse sind selbstredend weitere Erklärungsmuster im Umlauf. Dass der Autor sich vorzugsweise historisierender, psychologisierender und psychoanalytischer Erklärungsmuster bedient, ist dem Schwerpunkt seiner Betrachtung geschuldet, ebenso wie die Ambivalenz: die Selbsterwählten sind sowohl demokratiegefährdend destruktiv, schlicht religiös bis fanatisch und als auch irregeführte Lämmer, die man bemitleiden können sollte. Daher erklärt sich das gleichsamige Zurückzucken vor mancher kompromisslos direkten und scharfen Formulierung.
Immer wieder zielt der Autor auf Unbelehrbarkeit und fragt daher nach Optionen der Ungläubigen, der Aufgeklärten, der Modernen, um die Selbsterwählten bzw. ihre Religion, ihren fanatischen Glauben und subversiven Einfluss zu umgehen. Seine Empfehlungen betreffen Maßnahmen, die indirekt ansetzen, an Rahmenbedingungen wie Bildung, an Bedingungen der Möglichkeit zur Entstehung und daher Be- bzw. Verhinderung solch spalterischer Gläubigkeit und seiner Ansteckung.
Denn was das eigentlich Erschütternde ist, ist der Umstand, dass sich Politiker und öffentlich-rechtliche sowie auf dem Sektor Bildung tätige Institutionen, dass Wirtschaft und andere Entscheider, dass Medienverantwortliche und andere Massen beeinflussende Personen/ Gruppen/ Strömungen einer bis ins Fanatische hinein radikalisierten Minderheit folgen, vor ihr auf die Knie fallen und tun, was sie will. Dabei fehlt dieser Mini-Minderheit vor allem anderen dies: tätig zu sein im Sinn gesellschaftlichen Friedens, Erwägungen durch Vernunft, Verstand, Argumentation und Realitätsakzeptanz, das Bewusstsein für die Errungenschaft nicht nur von Aufklärung und Moderne hinsichtlich der Erschaffung prinzipieller Gleichwertigkeit aller Menschen, sondern auch – ein dringliches Plädoyer des Autors – das Ernstnehmen der Erfolge auf diesem Feld. (Dazu dienen die von ihm benannten drei Wellen des Ringens um Gleichberechtigung aller Ethnien in den USA, mit Fokus auf die „Schwarzen“.)
und die Verweigerung zahlreicher vermeintlich Betroffener „Nicht-Weißer“ bzw. „People of Color“ (wie der Autor selbst), die sich schlicht nicht ideologisch vereinnahmen lassen wollen in einen neuen Rassismus, der Individualität verneint und verabscheut und eine selbst erwählte Kollektivität, Gruppengehörigkeit aufzwingt.
Kurz: John McWhorter führt sowohl die Verbreitung der Ideologie als auch deren Unreflektiertheit, den Mangel an argumentativer Deklination und Glaubwürdigkeit als auch die Ansteckung gesellschaftlichen Milieus und Akteure (Einzelne, Gruppen) vor – in einem alarmisierenden Ton eines Bürgers, der an der Institutionalisierung jener Glaubensüberzeugung und damit der Indoktrination von so genannt offiziellen Stellen fast (!) verzweifelt, zumal die Akzeptanz der Ideologie der gleichsam lächelnd leidenden Büßer nachweislich verantwortlich dafür ist, dass Karrieren von exklusiven Fähigen an Universitäten und in Unternehmen zerstört wurden und werden – stets im Namen reiner subjektiven Überzeugungen, vorgetragen in Politpopp der Sündhaftigkeit, der in moralistisch-normative Kleider gewickelt ist. Zum Club der Unterstützer zählen Akteure im Umkreis von Medien, Universitäten, Stiftungen und anderen Bildungsinstitutionen sowie NGOs.
Immer wieder hebt John McWhorter hervor, dass diese MiniMinderheit von Gläubigen und Sektierern sich aus Personen speist, „die es sich leisten können“ – vom Büßergestus noch profitieren, institutionell und psychologisch-persönlich.
Massive Kritik übt der Autor an: ideologischer Verblendung, am Rückfall in rassistische Muster bis hin zu fanatischem Festhalten an Glaubenssätzen, an Opfermythologie ebenso wie an der Fixierung auf Geste und Symbolik statt pragmatischer und von den sich selbst (!) als betroffen Bezeichnenden orientierten Realitätsveränderung, also zu einer nachgefragten, bedarfsorientierten Verbesserung beklagter Umstände.
Die Selbsterwählten sind Sektenlämmer mit Macht auf jene, die sich moralistisch blenden lassen, die emotional empfänglich sind für eine Rhetorik und Symbolik von Büßertum und für jene, die so komfortabel leben können, dass sie davon profitieren (Selbstwert, Geschäftsmodell) – freilich, ohne „Skin in the game“ (N.N. Taleb), ohne praktische Kosten. Kein Hands-on von diesen Bessergestellten, die sich in vermeintlichem Altruismus, zumindest in tiefster Empathie verorten und deren Larmoyanz mündet in ein Gefühl an Überlegenheit von Gläubigen, deren Auslassungen argumentativ und empirisch unterbestimmt, theoretisch inkonsistent sind und deren Blick von Blindheit für Realitäten, historische wie gegenwärtige, für sozial-evolutionäre und kulturelle Entwicklungen geschlagen ist. Die Beispiele lassen den Leser zuweilen mit geweiteten Augen auf die Buchseite starren.
John McWhorter thematisiert, um Schlagworte zu nennen, selbstverständlich weitere brisante Kontroversen im Umkreis der rassistischen Ideologie der Selbsterwählten, racial theory und people of color, ein und fragt in erfreulich penetranter Weise immer wieder, welche Auswirkungen dies auf gesellschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten (!) und bildungsbezogene Erziehung hat, warum sich politisch Verantwortliche darauf einlassen, die Ideologie zu offizialisieren – und wie es kommen könnte, dass eine – ablehnende – Mehrheit schweigt. Es sind erstere, die der Autor in besonderer Verantwortung sieht; schließlich sind es, die gesellschaftliche Gestaltung beruflich und vermeintlich (repräsentativ-) demokratischen Richtlinien zu folgen haben. Das aber tun sie keineswegs. (Die deutsche Kontroverse, die Skandale um Parteilichkeit und Selbstbereicherung in öffentlich-rechtlichen Medien und das drastisch gesunkene Vertrauen in eben diese in Deutschland sind eine unbestreitbare Folge politischen Versagens und eines Kotaus vor einer Sekte von Gläubigen.)
John McWhorter schreibt mit Schwung und mitreißend, wenn auch zuweilen wegen des Furors etwas ermüdendend, so dass man das Buch eine Weile beiseitelegen möchte. Seine Ausführungen knüpfen zum Ende des Empörungsbogens hin an an Überlegungen für Arrangements zur Be- und Verhinderung: Interventionen, von denen sich insbesondere jene anregen lassen sollten, die in den Sektoren Bildung/Medien, öffentliche Institutionen/Verwaltung, Politik und Wirtschaft, aktiv sind.
Einer der Beweggründe, dieses Buch verfasst zu haben, liegt in der tiefen Sorge des Vaters John McWhorter davor, mit welchen ideologischen Blendungen die (schulische) Erziehung seiner Kinder arbeitet und, in Teilen, vielleicht erfolgreich sein könnte. Er ist in der Lage, seine Kinder vor Indoktrination zu retten. Aber von wem und wie sollen Kinder und Heranwachsende gerettet werden, die in bildungsfernen Umfeldern aufwachsen?