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Papyrus. Geschichte der Welt in Büchern

Autor Irene Vallejo
Verlag Diogenes
ISBN 978-3-257-07198-6

Der Autorin ist ihre Begeisterung für und Ihr Vergnügen an der Epoche der Antike anzumerken; ebenso wie sich ihre Tätigkeit als Autorin von Kinderbüchern und (zwei) Romanen in der lockeren, flüssigen, zuweilen poetisch anmutenden, sehr gefühlvollen Sprache und Sprachmelodie niederschlägt. Wer zudem Freude daran hat, wenn Autoren persönliche Erlebnisse schildern, Deutungen und Wertungen vornehmen, um in eine historische Entwicklung ein- bzw. überzuleiten – diese Leser werden Freude daran haben, Geschichtchen in der „Geschichte der Welt in Büchern“ zu finden. In groben Zügen wählt die Autorin historische Etappen des Schreibens, Lesens, der Materialien, Darstellung von Schriftlichem in Syntax, Orthographie, Indices ausgehend von Entwicklungen in der Antike aus und skizziert – zuweilen sehr vereinfacht – wesentliche Linien, in der Regel verwoben in exemplarische Geschehnisse, die meistens bekannte Charaktere der Epoche zum Ausgangspunkt oder zur Illustration vorführen. Dabei springt die Autorin (romanhaft) zwischen Zeiten/ Entwicklungen und Persönlichkeiten/Erlebnissen hin und her, so dass man – siehe oben – als Leser keinen linearen Text einer Entwicklung liest, sondern historische Entwicklungslinien und Bezüge selbst herstellen muss, auch wenn einem die Autorin durch Kurzwiederholung (Anknüpfung) häufig dabei assistiert.

Hilfreich ist die Struktur der Kapitel als Groborientierung: Das erste widmet sich Griechenland und bestätigt einmal mehr das Narrativ um die grundlegende Bedeutung griechischer Philosophie, Wissenschaft, griechischer Lebensbetrachtung und Lebensweise für die folgenden Jahrtausende – insbesondere für, siehe Kapitel zwei, „Die Wege Roms“. Schwerpunkt des Buches sind Entwicklungen, die zu Buch und Schrift, zu Schreibmaterialien (z.B. Stein-, Holztafeln, Papyrus, Schriftrollen, -seiten, -seitenbündel, Buch) und Schreib-, Satzversionen (von durchgehender Aneinanderreihung von Buchstaben bis hin zu standardisierter Syntax, Orthographie, Interpunktion, zu Absätzen und weiteren leserfreundlicher Architektur von Texten bis hin zu Katalogen, Indices, Hyperlinks – Buch als Basis für Internet), zu Lesen (laut zu stumm) und Leser, zur Ausdifferenzierung literarischer Gattungen, Genres und entsprechenden Lesertypologien.

Nahezu spannend lesen, wie, warum und wo sich Bibliotheken in der Antike bilden; der legendären Bibliothek von Alexandria, die dreimal zerstört und wieder aufgebaut wurde, schenkt die Autorin zwar besondere Aufmerksamkeit, indes auch der Entstehung weiter Bibliotheken, die im Übrigen bereits in der griechischen Antike zum Teil als Areal zusammen mit Museen und anderen Bildungs- und Vergnügungseinrichtungen installiert wurden. (Eine architektonische Formation, die heutzutage als innovativ und hipp gilt.) Der Wunsch nach einer großen Büchersammlung (bzw. zunächst Tafeln, Gegenstände mit Schrift, Schriftrollen von vielen Metern Länge mit fortlaufender Beschriftung) reifte in Herrschern früherer Jahrtausende: Ihrem Ehrgeiz, Ihrem leidenschaftlichen Wunsch, das ganze Wissen der Welt in einem Haus zu inkorporieren, verdankt die Zivilisation die ersten renommierten und auch für das „Abendland“ essentiellen Bibliotheken.

Wo es Bücher, Bibliotheken (damit Schriftkundige bis hin zu Universitäten und Schulen) gibt, gibt es Varianten der Herstellung (von schriftlich angefertigten Kopien (mit entsprechender Distanzierung vom Original analog dem Kinderspiel „Wege einer Nachricht“), über automatisch hergestellte Kopien, blattweise Auszüge bis Blattzusammenstellungen hin zur Buchform (sehr instruktiv dazu siehe das Buch: Index, eine Geschichte des, rezensiert hier: https://www.gabal.de/medien/rezensionen/index-eine-geschichte-des/) Und auch Büchereien, Buchhandlungen (auch „wandernde“, die es in ländlichen Gegenden heute noch bzw. wieder gibt); Büchermärkte lassen nicht auf sich warten, spätestens seit der Kunst des Buchdrucks, der Vervielfältigung bis hin zum gegenwärtigen digitalen Buch. Die Vermassung hat ihren Preis – gerade bezüglich der Qualität und Themen der schriftlichen Texte.

Wie nebenbei erhält der Leser einen Eindruck von der Wichtigkeit von Räumen (Herrschaftsgebieten) und deren Weite, die Reiter und andere Bücherbesorger zu überwinden hatten, um die Ambition eines Herrschers oder Bibliophilen, Bücher der Welt einzusammeln (zu erwerben, mit und ohne Überwältigung). Leser können zudem über die bedeutsame, weil folgenreiche von Zufällen staunen, über Leistungen von Klöstern, Mönchen und Nonnen, von Wissensdurstigen und Beauftragten im Dienst von Büchern (Beschaffung, Pflege, Sortierung, Archivierung). Zudem erfährt der Leser, dass, analog Umberto Eccos „Der Name der Rose“, bereits seit der Antike über den (monokausal und direktkausal gedachten) Einfluss schriftlicher Texte auf Denken, Fühlen und Handeln Menschen debattiert wird, wenn auch mit einem wesentlichen Unterschied: in der Antike bezogen auf Gedächtnis- und Bildungsniveau, gegenwärtig bezogen auf ideologische Prägung.

Die Autorin stellt zwar Bezüge zur Gegenwart her: Internet, Lesen digital/analog, Stellung von Texten im Rahmen von Identitätsrhetorik/politik und Cancel Culture bzw Prägung (mit bekannten Bezügen zu antiken Philosophen/ Lehrern), doch diskutiert dies nicht kritisch. Vielmehr begnügt sie sich mit kurzen, persönlich gefärbten Anmerkungen. Auch die Debatte um einen literarischen Kanon streift sie und betont sowohl dessen Wandel in Abhängigkeit von den auswählenden Subjekten, dem Zeitgeist/ Moden und historisch-ideologischen Vorzeichen. Das muss kein Makel sein; können die Anmerkungen Leser doch dazu animieren, diesbezüglich weitere Lektüre zu wählen; allein Tageszeitungen liefern reichhaltiges Material. Leser finden ein Panoptikum an Fakten, Deutungen, Bezügen vor, durchaus mit Abzweigungen, die eher einem spontanen Einfall als einer Systematik zu verdanken scheinen – launig-einladend geschrieben insbesondere für jene, die gerne historische Romane lesen, die auf guter Recherche beruhen. „Die Geschichte der Welt in Büchern“ ist zugleich eine Geschichte der Bücher der Welt (des Menschen).

Regina Mahlmann