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Melnitz

Autor Charles Lewinsky
Verlag dtv
ISBN 978-3-423-13592-4

Onkel Melnitz ist so etwas wie ein ewiger Jude – wobei die Begrifflichkeit negativ besetzt ist, mit christlicher Annotation und vor allem nationalsozialistischer. Obwohl schon seit Mitte des 17. Jahrhunderts nicht mehr unter den Lebenden weilend, kehrt er in manchen (schwierigen) Momenten seiner später lebenden Mischpoche als eine Art „Gewissen“ auf – allerdings hört man nicht auf hin … Erzählt wird die Geschichte der Familie Meijer, die sich zunächst weit(er) verzweigt – dann jedoch letztlich ausstirbt, ähnlich den Mann´schen Buckenbrooks. Trotz diverser Ausbüchs-Versuche kehren die Protagonisten letztlich wieder in die Schweiz zurück, soweit sie überleben – so auch Einheiratende. Vielerlei Historisches wird greifbar(er), interessant vor allem die (scheinbar neutrale) Schweizer Perspektive. Es zeigt sich auch, dass über die Jahrhunderte es in Europa immer wieder zu Judenverfolgungen gekommen war – und das Verhalten der jeweils beteiligten Bevölkerung ähnlich jener zur Nazi-Zeit war … Was mir aus Trainer-Perspektive auffiel, sind Passagen zu Multikulti- und Kommunikations-Themen, wenn etwa ein höchst propandistisch agierender lokaler Geschäftsmann äußerst geschickt den abendlichen Auftritt vorbereitet und so durchzieht, dass ein (die jüdische Seite vertretender) Kontrahent chancenlos ist: Eine erste Niederlage hin zum Referendum, das schließlich zum Schächtverbot führt. Hintergrund ist weder der vorgeschobene Tierschutz-Gedanke noch das unterschwellige antijüdische Religionsverhalten, vielmehr geht es darum, das eigene (Metzger-)Handwerk zu schützen. Wobei es in guten Zeiten durchaus zu anti-solidarischem Verhalten auch zwischen Juden kommt, wenn sich ein Teil der Mischpoche anderen gesellschaftlichen Schichten zugehörig fühlt … Apropos, vielerlei Dichotomien werden vom Autor eingeführt. So schafft es der zupackende Handwerke Kamionker, seinen Sohn aus osteuropäischen Wirren im Zuge des Ersten Weltkriegs von dort heimzuholen, während sein zu gesellschaftlicher Anerkennung (und später Neid …) gekommener Schwager aus dem anderen Meijer-Zweig trotz aller Beziehungen und Geldeinsatz nicht schafft, seinen Sohn zu retten … Von 1871 bis 1945 reicht die Familienchronik, mit Höhen und Tiefen höchst unterschiedlicher Charakter, Schweizer allesamt – und Juden, selbst dann, wenn sie (aus Gründen gesellschaftlicher Anerkennung) ihr Judentum aufgegeben haben. Der Autor zeigt auch, dass z.B. Altersdemenz durchaus kein neues Phänomen unserer Zeit; einfühlsam bringt er die schweren Momente für Angehörige dem Leser näher, wenn er immer wieder eine der Hauptpersonen erlebbar macht: Chanele … Zum bunten Panoptikum (das auch eine konkrete Rolle spielt) gehören auch so unterschiedliche Themen wie Homosexualität und Kaufhauskultur. Alles in allem „höchst lesbar“. Inzwischen neu nurmehr als Taschenbuch erhältlich. – HPR

Hanspeter Reiter