Krimkrieg – der letzte Kreuzzug
Autor | Orlando Figes |
Verlag | Berlin |
ISBN | 978-3-8270-1028-5 |
Davon hatte ich bis dato wenig gehört oder gelesen – und doch gilt der Krimkrieg „als Vorbote der großen Konflikte des 20. und sogar des 21. Jahrhunderts“, so die U4. Vage erinnere ich, dass die legendäre Florence Nightingale dort im Einsatz gewesen sei, die als Vorläuferin des Rotkreuz-Gründers Henry Dunant (nach der Schlacht von Solferino 1859) mehr Menschlichkeit eingebracht habe, wenn eine solche bei Kriegs-Metzeleien denn überhaupt denkbar ist … Weit über 700 Seiten umfasst dieses Werk, das Entstehen wie Verlauf dieses vergleichsweise kurzen Krieges (1853-55) mit alleine einer ¾ Million Toten (gefallenen Soldaten und in der Folge gestorbenen Zivilisten) akribisch darlegt. Ob das jetzt heißt, jede Schlacht zu verfolgen, ist ein anderes Thema: Jeder Leser entscheide für sich. Doch die großen ganzen Züge des Konflikts kennen zu lernen, kann wirklich helfen, auch das Kommen von 1. und 2. Weltkrieg (noch) besser zu verstehen. Auch dies übrigens eine Zäsur: Offenbar gilt der Krimkrieg als erster, der stark durch Medien-Berichterstattung beeinflusst wurde, wenn nicht gar mit verursacht: „Dies war ein Krieg – der ersten in der Geschichte -, der durch den Druck der Presse und der öffentlichen Meinung herbeigeführt wurde.“ (S. 228) Auch deshalb: „Die Erfindung des Dampfschiffs und des Telegrafen versetzte Zeitungen in die Lage, ihre eigenen Reporter in Kriegsgebiete zu schicken und deren Artikel innerhalb ovn Tagen zu drucken.“ (S. 438) Und „inhaltlich“? „Durch ihn zerbrach die alte konservative Allianz zwischen Russland und den Österreichern, welche die bestehende Ordnung auf dem europäischen Kontinent gestützt hatte, woraufhin sich neue Nationalstaaten in Italien, Rumänien und Deutschland herausbilden konnten. Er ließ die Russen mit einem tiefen Groll gegenüber dem Westen zurück, einem Gefühl, Opfer eines Vertrauensbruchs zu sein, weil die anderen christlichen Staaten Partei für die Türken ergriffen hatten. Hinzu kamen ihre enttäuschten Ambitionen auf dem Balkan … die zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten. Dies war der erste große europäische Konflikt, in den die Türken einbezogen waren … Durch ihn öffnete sich die muslimische Welt des Osmanischen Reiches westlichen Armeen und Technologien, er beschleunigte ihre Integration in die globale kapitalistische Wirtschaft und löste eine islamische Reaktion gegen den Westen aus, die sich bis heute fortsetzt. Jeder Staat hatte beim Eintritt in den Krimkrieg seine eigenen Motive. Nationalismus und imperiale Rivalitäten verband sich mit religiösen Interessen.“ (S. 17, Einleitung) – deshalb auch der Untertitel „Der letzte Kreuzzug“ … „In nahezu allen Lebensbereichen markierte der Krimkrieg einen Wendepunkt, was die Öffnung und Verwestlichung der türkischen Gesellschaft betraf … Während des Krieges und im Anschluss daran kamen mehr Europäer nach Konstantinopel als jemals zuvor.“ (S. 600) Leonid Tolstoi übrigens wurde durch seine Teilnahme am Krimkrieg u.a. zu „Krieg und Frieden“ inspiriert (S. 254ff.), sein Schriftsteller-Kollege Dostojewski baute einen tiefen Groll auf Europa auf und sah „den Krimkrieg als die Kreuzigung des russischen Christus“ (S. 634). Wiederum die Presse-Berichte führten dazu, dass der britischen Öffentlichkeit die Grausamkeit dieses Krieges bekannt wurde (S. 421ff.), mit der Folge u.a. der Aktivitäten von Florence Nightingale – mal eine positive Wirkung, zumindest: eine positivere! – Das Buch gipfelt im „Epilog: Der Krimkrieg in Mythos und Überlieferung“ (S. 656ff.) mit einem völlig anderen Bild als den recherchierbaren Tatsachen. Auch hier spielte die Presse wieder kräftig ihre Rolle … – HPR