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Der letzte Sessellift

Autor John Irving
Verlag Diogenes
ISBN 978-3-257-07222-8

Eine Art Bildungs-Roman auf annähernd 1.100 Seiten… Der bekannte Autor setzt dafür unterschiedliche Schreibe-Genres ein, etwa eine Form des plaudernden Erzählens: In dieser Prosa lässt sich der Ich-Erzähler scheinbar ablenken, will sagen, kommt „vom Höckschen aufs Stöckschen“. Und lässt so seine Leserschaft an immer neuen Facetten seines Lebens miterleben. Ja, da dürfte eine Menge Autobiografisches verarbeitet sein, auf allerdings deutlich andere Weise als etwa bei Thomas Mann in dessen Buddenbrooks… Ums Kleinsein und –bleiben geht es durchgehend, vielleicht eine Analogie zum (Nicht-)Erwachsenwerden?!

Skifahren und andere Sportarten
…schwingen laufend mit, schon durch den Titel angedeutet (der sich der Leserschaft spät erschließt, doch dann umso trefflicher). Doch darüber hinaus geht´s um Sport in Schule und beim Erwachsenwerden, sei es Lacrosse (ein Cousin), sei es Ringen (der Stiefvater plus Adam himself), stark verbunden mit den haptisch-kinästhetischen Effekten, sprich wechselseitigen Berührungen. Ach ja, und vielfachen Verletzungen, vor allem gerissenen Sehen an diversen Fingern – fürs Schreiben jeweils weniger günstig… Doch zurück zum Skifahren, was naturgemäß viel mit der Region zu tun hat, in der die Geschichte spielt – resp. die Geschichten spielen, nämlich „1941 in Aspen, Colorado. Die 18-jährige Rachel tritt bei den Skimeisterschaften an. Eine Medaille gibt es nicht, dafür ist sie schwanger, als sie in ihre Heimat New Hampshire zurückkehrt. Ihr Sohn Adam wächst in einer unkonventionellen Familie auf, die allen Fragen über die bewegte Vergangenheit ausweicht. Jahre später macht er sich deshalb auf die Suche nach Antworten in Aspen. Im Hotel Jerome, in dem er gezeugt wurde, trifft Adam auf einige Geister. Doch werden sie weder die ersten noch die letzten sein, die er sieht.“ Gespenster also, sehr ernsthaft beschrieben und glaubhaft „dokumentiert“… Doch auf Frei-Geister, denn für die damalige Zeit überraschend kaum verborgen (und in der jeweiligen Community offenherzig, lange Zeit nur dem Protagonisten Adam verschwiegen) ergibt sich eine fast wirre LGBT-Ereigniskette, mit vielerlei Bezügen und Beziehungen, vielfach sexuelle, doch durchaus auch „platonisch“… Stop, das möge die geehrte Leserschaft sich selbst erlesen  …

Creative writing
…wird ebenfalls wieder kehrend beleuchtet: Das Schreiber-Werden von Adam, wohl auch jenes des Autors integrierend. Thematisch Genres fokussierend, sei es Roman, Novelle, Kurzgeschichte – und: Drehbuch, siehe etwa das Kapitel 30 Die Frau mit dem Kinderwagen (S. 445ff): Damit habe ich mich schwer getan, offen gesagt – wie auch etwa der Ich-Erzähler selbst, zitiert im Buch – visualisieren geht dann doch wohl besser aus normalem Text heraus?! Weswegen ich ein weiteres Drehbuch-Kapitel fast komplett übersprungen habe: Kein Gespenst (S. 902ff.). Worin es im Gegenteil um viele sehr aktive Gespenster geht, ein weiteres zentrales Motiv des Romans… Wie ist das denn mit dem Schreib-Gen? Davon leitet Adam auch ab, wer sein Vater gewesen sein könnte, siehe oben. Geradezu metaphorisch erschien mir die Metamorphose von Em in ihrem Ausdruck (nach außen): Zunächst schweigsam, sich pantomimisch gekonnt äußernd. Dann zum Schreiben kommen und damit das „Stummsein“ auf andere Weise kompensierend. Und es schließlich verlassend, als sie (wieder) zu sprechen beginnt – warum, wieso und auf welche Weise, möge Leser selbst heraus finden  … Und wie sie ihre Vorlese-Stimme findet, um sie schließlich zu variieren – bis hin zum Moby-Dick, aus dem sie nie hatten lesen wollen, im Gegensatz etwa zu Adam (und seiner Nana, die ihm daraus vorgelesen hatte). Apropos, wie wichtig Vorlesen für Kids ist – auch das zieht sich durch den Roman, von Adam hin zu dessen Sohn Matthew. Neben Hermann Neville kommt Kurt Vonnegut ziemlich ausführlich zur Sprache, siehe S. 982ff.

¾ Jahrhundert Zeitgeschichte
…1941 bis 2019 nämlich, all-in – und ziemlich US-orientiert naturgemäß, doch (auch und gerade) für Europäer durchaus erhellend, ob nun jung oder älter, nacherzählt oder parallel selbst erlebt: Der gesellschaftliche Wandel dort, Fokus Geschlecht, Rassismus eher am Rande. Der Vietnam-Krieg, hautnah sich auswirkend. Die wirtschaftliche Situation, etwa mit Reagan – usw. usf. Und natürlich dessen Umgang mit Aids, womit wir wieder beim Thema sexuelle Beziehungen wären, schon sehr zentral und dauerhaft. Ist Kanada eine Art Rettung, hat Em doch US- und jene Staatsbürgerschaft – kommen Adam und Em am Ende zusammen? Letztlich dreht sich´s immer wieder um etwas, das heutzutage wohl unter Polyamorie trefflich zusammen gefasst wäre. – Auch dies, erinnernd bzw. anregend, zu entnehmen den finalen Seiten des Buchs: Garp und wie er die Welt sah * Owen Meany * Gottes Werk und Teufels Beitrag – das sind wohl des Autors (bislang) bekannteste Werke, auch bei Diogenes verfügbar. HPR www.dialogprofi.de www.gabal.de

Hanspeter Reiter