Homo mundanus
Autor | Welsch, Wolfgang |
Verlag | Velbrück Wissenschaft |
ISBN | 978 3 942393 41 6 |
Diderot und Immanuel Kant: Mit ihnen beginnt der Siegeszug des erkenntnistheoretischen Konstruktivismus und mit ihm des anthropischen Prinzips, die menschenzentrierte, von ihm ausgehende Betrachtung, die den Mensch als Maß nimmt. Das ist nur eine von möglichen anderen Sichtweisen, und bereits, wenn man asiatische Weltbilder (!) hinzunimmt, gegenwärtig im Alltag nicht die einzige Fassung, sich auf dem Globus, geschweige in der „Welt“, zu orientieren.
Der kürzlich von der Universität Jena emeritierte Professor für Theoretische Philosophie und praktizierender Anhänger interdisziplinären Arbeitens, der unter anderem als Kenner der Antike, des Idealismus, der Analytischen Philosophie und der Postmoderne einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sein mag, hat vorgelegt, das als Alterswerk bezeichnet werden könnte. Und ähnlich wie John Rawls beginnt Wolfgang Welsch sein Vorwort mit einer Intuition, die allerdings bereits eine bestimmte Form einnimmt:
„Seit langem trieb mich ein Unbehagen an der modernen Denkform um. Ihr zufolge ist all unser Erkennen rein menschlich bestimmt und beschränkt. Daher sollen wir nur eine menschliche Welt konstruieren, nicht aber die wirkliche Welt erkennen können. Alles, womit wir zu tun haben, sei subjektive, soziale, kulturelle Konstruktion. Ich zweifle nicht, dass dies auf etliches zutrifft – aber auf alles?“ Diesem Unbehagen geht der Autor in seinem eintausendseitigen Werk nach: von der Antike bis heute.
Die Grundfrage lautet: Sind wir Menschen Weltfremdlinge oder sind wir weltverbunden? Können wir Welt erkennen, wie sie ist, oder nur gefiltert durch den menschlichen Geist? Ist jede Erkenntnis allein Menschenerkenntnis und also grundsätzlich beschränkt? Oder gibt es etwas Drittes? In dieser Frage ist der Begriff „Welt“ wörtlich gemeint. Wie in der Antike, die den Menschen innerhalb des Kosmos` begreift, meint Welt hier nicht Erde oder „unser“ Sonnensystem, sondern Kosmos. In seinen anthropologischen und kosmologischen und den Ausführungen zur biologischen und kulturellen Evolution des Menschen spricht Wolfgang Welsch denn auch davon, dass Menschen noch immer vorwiegend aus „Sternenstaub“ entstehen. Damit ist klar, wohin die Reise geht: in die Weltverbundenheit.
Man kann fragen, warum das interessant sein sollte. Warum man sich mit dem neuzeitlichen, modernen Programm der Relativität und Konstruiertheit überhaupt kritisch auseinander setzen sollte. Die Antwort findet man jüngst in sich mehrenden Veröffentlichungen aus Philosophie und Evolutionärer Psychologie, allgemein aus den Lebens- und Kulturwissenschaften, die den Menschen nicht nur bzw. primär als kulturell, sondern auch bzw. primär als biologisch gewordenes Wesen einkreisen. Wolfgang Welsch nimmt in seinem Unbehagen insofern ein durchaus verbreitetes auf, das sich an der an subjektiver Wilkür Tür und Tor öffnenden Relativität, deren Implikationen und Folgen für Erkennen, soziale Interaktion, Gemeinschaftsbildung und das gesamte Feld der Interkulturalität stößt.
Der Philosoph startet bei den Polen von Weltkongruenz und –inkongruenz, Weltopposition und –verbundenheit und fragt nach der Erkennbarkeit von Welt und Mensch durch den Menschen.
Die Entdeckungs- und Erkenntnisreise beginnt in der Antike, macht Station bei Mittelalter, Neuzeit, Moderne und Postmoderne und hält in der Gegenwart. An jeder Station führt Wolfgang Welsch in verschiedene philosophische Disziplinen und Positionen ein, leitet sie her, erläutert, argumentiert, disputiert und pointiert. In diesem ersten Teil staunt der Leser über die Verschiedenheit und Vielfalt der Möglichkeiten, das Verhältnis von Welt und Mensch und damit die Bedingungen der Möglichkeit für Erkenntnis zu denken. Diesem Teil mit seinen Kapiteln folgt ein zweiter Teil, der sich der „Tiefenstruktur der modernen Konstellation“, der „Opposition zwischen Mensch und Welt“ widmet. Analog befasst sich der dritte Teil mit der „grundlegenden Weltverbundenheit“.
Bis dahin seziert Wolfgang Welsch mit einem vorbildlicher Präzision und selten bei Denkern zu findenden Sensibilität unterschiedlichste Positionen, stets konstruktiv in erkennender Absicht und eng geführt auf seine zwei Fragestellungen. Der Leser weiß inzwischen natürlich, wo des Philosophen Präferenzen liegen. Wer durch geistesgeschichtliche und systematisch philosophische Argumente nicht überzeugt ist, kann das vielleicht durch den vierten Teil werden. In ihm skizziert der Autor sowohl die kosmische als auch die biologische (also materielle) und die kulturelle Evolution des Menschen und kommt zu dem Schluss, der den Haupttitel des Werks ausmacht: der Mensch ist ein homo mundanus; er ist aus naturalistischer Sicht von dieser Welt.
Der fünfte Teil ergänzt die aus der Perspektive von Kosmologie und Anthropologie erhaltenen Antworten auf die Frage, wie der Mensch zu verstehen und die Welt zu erkennen sei, um die ontologische, um „eine Ontologie von grundsätzlich evolutivem Zuschnitt“ (851). Dabei inkludiert Ontologie Epistemologie (899). Der Autor verlässt im Zuge seiner Reflexionen den Dualismus und die Opposition von Mensch und Welt. Weder geht das Verstehen rein vom Menschen aus (im Sinne Diderots), noch umgekehrt nur von der Welt aus. Vielmehr geht es um ein relationales Verhältnis, konkret: um eine gemeinsame „Bildungsgeschichte“: Dieses gemeinsame Entstehen berücksichtigt, dass „Erkennen ontologisch fundiert und situiert“ ist (921), dass der Mensch, gerade weil er in all seinen Facetten eine der Konkretionen der Welt ist, diese und sich selbst erkennen kann. „Wenn man den Menschen so versteht – also nicht anthropisch, sondern mundan – , dann macht es in der Tat erneut Sinn zu sagen, dass unser Verstehen der Welt das Verstehen unserer Welt ist (und nicht einer Welt schlechthin) … Es ist nicht so, dass wir auf eine mensch-typische Welt bezogen wären, weil wir diese Welt nostra sponte konstruieren würden, sondern wir sind auf unsere Welt bezogen, weil wir Produkte, Bestände und Agenten innerhalb der Weltversion sind, die zu uns geführt hat.“ (936) Damit verlässt der Autor die Herkunftsblindheit der Moderne und respektiert, dass „zuallererst die Welt die apriorischen Formen hervorgetrieben hat, mittels derer wir die Welt dann betrachten.“
Damit verändert der Autor das gängige Verständnis und Reden von Relationalität und Konstruktivität grundlegend; denn er meint es eben nicht anthropisch. Er gibt ein neues „Pensum des künftigen Denkens“ (936) auf, das beispielsweise für die Thematik von (Inter-, Trans-, Intra-, Multi-) Kulturalität und Diversität in Organisationen, Gemeinschaften, Kooperation und Zusammenleben überhaupt fruchtbar gemacht werden kann. Es hält damit auch für Weiterbildner (Personaler, Coaches, Berater, Trainer, Pädagogen) und Therapeuten Inspirierendes parat und lädt sie zu philosophischer oder philosophierender Reflexion ein. Im Coaching, um ein weiteres Beispiel zu nennen, kann das Verhältnis von Mensch und Welt (so ein weiterer Buchtitel des Autors, sozusagen die schlanke Version) thematisiert werden; denn wer sich auf diese Fragestellung einlässt, wird rasch erfahren, wie sehr das eigene Denken, Fühlen, Tun, die persönliche Grundüberzeugung und der Grundtenor des Intervenierens von einem Mensch-Welt-Verhältnis dekretiert ist, das sich mit dem des Klienten keinesfalls decken muss.
Das Werk nimmt den Leser auf eine intellektuell anspruchsvolle und höchst inspirierende Reise mit. Es geht, gerade in den naturwissenschaftliche und philosophische Wissens-, Debattenbestände referierenden Passagen, nicht darum, brandneue Erkenntnisse aufzutun. Sondern darum, Gekanntes in das Licht einer philosophischen Fragestellung zu stellen und verändert zu positionieren. Das Werk ist reich an Entdeckungen, Lehrreiches in Inhalt und Denkweisen und bietet bei alldem größte Lesefreude. Denn Wolfgang Welsch ist scharfsinniger Denker, feinfühliger Beobachter und herausragender Stilist in einer Person.
Jene Neugierigen, die auf den Titel des Buches mit dem Impuls reagieren, hineinzuschauen, sollten sich durch die Fülle keinesfalls abschrecken lassen. Im Gegenteil: Sie sollten eintreten. Der Philosoph macht es dem intellektuell wie emotional engagierten Leser leicht, ihm in seinen Gedankengängen zu folgen bzw. mitzugehen und gewährt durch Wiederholungen von bedeutsamen, weil folgenreichen Argumenten und Erkenntnissen sowie Zusammenfassungen des jeweils Erreichten immer wieder Orientierung.