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Die Zwei-Klassik-Gesellschaft: Wie wir unsere Musikkultur retten.

Autor Axel Brüggemann
Verlag FaZ-Buch
ISBN 978-396-251159-3

Axel Brüggemann, früherer Crescendo-Chefredakteur, ehemaliger Textchef bei „Welt am Sonntag“, Publizist und Regisseur und Betreiber des Podcasts „Alles klar, Klassik?“ darf als Insider und Fachmann für Kulturthemen, insbesondere für Musik, Oper und Theater gelten.
Der Titel des Buches suggeriert, es gehe vor allem anderen um Musik. Doch Axel Brüggemann spannt den Bogen weiter und umfasst einen Großteil kunst-kultureller Produktion in Musik und auf der Bühne und spricht von „Kultur“ im Allgemeinen und fragt zudem aus der gleichsam gedoppelten Beobachter- bzw. Kritikerperspektive, ob und inwiefern es Kulturkritik noch gibt; befragt also Kulturkritik selbst – und behält im Blick, inwiefern und wozu es Kultur-, Musikförderung im Besonderen in einer demokratisch verfassten Gesellschaft inmitten der Spannung, zuweilen auch des Antagonismus` von Klassik und Moderne, von Tradition und Zukunft braucht. Dass der Klassikliebhaber dabei häufig das einverleibende „Wir“ und „Uns“ benutzt, mag weniger die Kulturbegeisterten unter den Lesern ein Fragezeichen vor dem geistigen Auge sich formen lassen, sondern auch jene, die gesellschafts- und demokratiekritisch diese Frage beleuchten. Doch auch hier reicht sein Blick über diese Szene hinaus und ermutigt dazu, auch für bis dato kulturferne Milieus attraktive Angebote zu konzipieren und über – frühe – Bildung Sympathie zu ermöglichen.
Man sollte nichts generell Neues in dem Essay erwarten und dennoch interessiert lesen. Denn der Autor führt in typische Debatten, Polarisierungen, Eskalationen, die in Zeitungen (Feuilleton), Zeitschriften und anderen Medien verzettelt, ausschnitt-, auch holzschnitthaft skizziert, parteiisch reformuliert, wertend dargestellt werden, ein und diverse Strömungen zusammen, gibt in unterschiedlicher Ausführlichkeit das Gewordensein von Positionen, Politisierung und Instrumentalisierung für eigene Zwecke von Interessengruppen an, kurz: setzt in Kontexte von Entstehung und Verwendung kulturpolitischer und -praktischer Stellungnahmen ein und lässt den Leser durchaus an persönlichen Erfahrungen, eigenen Gedanken, Fragen und Argumenten sowie zahlreichen Beispielen aus dem „Kulturbetrieb“ teilhaben.
Seine Ausführungen sind ein Streifzug durch gegenwärtige Diskussionen, Debatten und Praxis in Kulturpolitik und -betrieb. Diese sind nicht nur selbstreferentiell (z.B. alte/ traditionelle und neue/ progressive Musik/Kulturpraxis, alte und neue Generation), sondern bedienen auch Fragen nach „Nachhaltigkeit“, #MeToo, postkoloniale/ identitätspolitische und damit Aneignungsthemen sowie Fragen zur Zukunftssicherung von Kulturleben. Der Autor verwebt Kulturfragen mit Veränderungsnotwendigkeiten für ein Überleben bzw. eine Neujustierung von Spielregeln und „Paradigmenwechsel“, plädiert für das Ausloten von Vereinbarkeit von neu und alt, von politischer/ politisierter Musik und Theater und visiert Möglichkeiten politisch-gesellschaftlicher Verortung und Teilhabe möglichst vieler Bürger an und berührt folglich auch die Frage nach Förderungswürdigkeit.
Die „Denkanstöße“ im Schlusskapitel, 45 an der Zahl, gliedert Axel Brüggemann als Thesen zu bestimmten Überschriften, jeweils deren fünf: „für einen ästhetischen Diskurs“, „für bessere Bildung“, „für eine faire Kultur“, „zu Kultur und Politik“, „zur Nachhaltigkeit“, „zur staatlichen Kulturförderung“, „zum Musikmarkt“, „zur Übertragung von Kultur“. Die Thesen sind als Bereicherung der Debatten gedacht, rekapitulieren knapp Vorgängiges und ziehen Schlussfolgerungen, als Vorschlag, als Anregung, als Aufforderung, die aus dem „Essay“ folgen.
Wie in den Erläuterungen und Argumentationen macht der Autor dem Leser auch bei den Thesen deutlich, wo seine persönlichen Sympathien liegen, ohne indes auf alternative bzw. andere Perspektiven, Deutungen, Konklusionen zu verzichten. Dazu verhilft der Autor dem Leser dadurch, dass er seine Position stets erläutert und häufig versucht, Gegensätze in einem Sowohl-Als-auch zusammenzuführen, oder eine synergetische Lösung vorzuschlagen, ein Drittes also, das das Polare bzw. Antagonistische in sich aufnimmt. Die Debatte dreht sich nicht nur um Eigenwert von Musik-, Kulturproduktion, sondern um ihren Stellenwert in der Gesellschaft. Wo genau braucht es „Erneuerung“ – und wozu, für wen, wie?
Dr. Regina Mahlmann www.dr-mahlmann.de www.gabal.de

Regina Mahlmann