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Die Schlafwandler

Autor Christopher Clark
Verlag DVA
ISBN 978-3-421-04359-7

Wer im Schlaf wandelt, dem mangelt es an Bewusstsein über seine Situation. Eine sehr passende Metapher, die auch das englische Original im Titel trägt. „Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ ist der Untertitel – gepasst hätte durchaus auch „Wer und was …“. Denn der Autor analysiert en detail die Verwicklungen der Staats(-Männer) unter einander in jener Zeit vor jenem ersten großen Krieg des 20. Jahrhunderts, dessen Beginn sich nun bereits zum 100. Male jährt, 2014 … Oder wie der Verlag selbst dieses Konvolut von fast 900 Seiten auf der U4 zusammen fasst, das trotz der Fülle bestens lesbar bleibt, auch im Sinne von Storytelling: „Der Zusammenstoß der europäischen Großmächte im Ersten Weltkrieg kostet Millionen Menschenleben und veränderte die politische Landkarte entscheidend. Wie kam es zu dieser vier Jahre andauernden, weltumspannenden Katastrophe? Christopher Clark … schildert in seinem neuen Werk die Vorgeschichte des Krieges, wie sie noch nie dargestellt wurde: als nicht gewolltes, auch vermeidbares Ergebnis einer dichten Folge von Ereignissen und Entscheidungen in einer durch vielfältige Beziehungen und Konflikte verflochtenen Welt. Und er stellt damit in Frage, was bisher als Konsens unter Historikern galt, dass Deutschland die Hauptschuld am Ausbruch des Krieges trägt.“ Denn die vielschichten Interessen von Österreich-Ungarn, Russland und letztlich natürlich auch den Serben führten zu Missverständnissen auf diplomatischer Ebene, erzeugt teilweise auch durch die Persönlichkeit der handelnden Personen – und darüber hinaus etwa auch auf englischer Seite. Dies zu erläutern, holt Clark weit aus und geht zurück bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts: „Die Polarisierung Europas 1887-1907“ ist eines er Kapitel, dazu „Verwicklungen auf dem Balkan“ und „Die letzten Chancen: Entspannung und Gefahr, 1912-1914“. So war der „Mord in Sarajewo“ tatsächlich weniger Auslöser als vielmehr gerne genutzter Anlass, sich höchst unterschiedlicher machtpolitischer Fantasien hinzugeben. Wobei auch der deutsche Kaiser wie seine Diplomaten sein Scherflein dazu beigetragen hat. Höchst aufschlussreich in seiner Analyse auch des serbischen Kampfes um Unabhängigkeit und der Rolle Frankreichs. „Clark beschreibt in seiner Darstellung der Vorgeschichte des Krieges minutiös die Interessen und Motive der wichtigsten politischen Akteure in den europäischen Metropolen und zeichnet dabei das Bild einer überaus komplexen Welt, in der gegenseitiges Misstrauen, Fehleinschätzungen auf vielen Seiten, Überheblichkeit, Expansionspläne und nationalistische Bestrebungen zu einer Situation führte, in der ein Funke genügte, den Krieg auszulösen … Clark zeigt, dass den serbischen Einigungsbestrebungen … eine deutlich größere Bedeutung zukommt, als bisher bekannt war.“ (Klappentext) Dass auch das Verhalten des österreichischen Thronfolgers nach einem ersten missglückten Attentatsversuch in Sarajewo, auf der geplanten Route weiter zu fahren, letztlich erst die erfolgreiche Wiederholung durch einen zweiten der Attentäter möglich machte, ist dabei ein eigentlich winziges Detail, das an das Zitat vom Schmetterlings-Flügelschlag erinnert, der einen Sturm auslöst. Hier: einen Tornado … HPR

Hanspeter Reiter