Seraphica (Franziscus von Assisi). Montefal (Eine avanture):
Autor | Heimito von Doderer |
Verlag | C.H.Beck |
ISBN | 978-3-406-58466-4 |
Noch während seiner russischen Gefangenschaft in Sibirien fasste Heimito von Doderer (1896 – 1966) den unwiderruflichen und unwiderrufenen Entschluss, Schriftsteller zu werden. Eines von dieser mehrjährigen Lebensphase zeugenden Niederschläge finden Leser in besonderem Ausmaß in dem Band „Die Erzählungen“. Kurz nach seiner Rückkehr aus russischer Gefangenschaft, im jungen Alter von knapp fündundzwanzig Jahren, schrieb Heimito von Doderer zwei Erzählungen, die im Mittelalter angesiedelt sind und im Jahr 2009 erstmalig als Fund aus dem Nachlass publiziert wurden, versehen mit einem profunden Nachwort von Martin Brinkmann.
Wer bereits Schriften von dem österreichischen Romancier, der beinahe den Literaturnobelpreis erhalten hätte (doch das ist eine ganz eigene und für Schriftsteller keinesfalls ruhmreiche Geschichte), gelesen hat, beispielsweise die populärsten, die seinen internationalen Ruhm begründeten und ihn an die Seite von Größen wie Thomas Mann rückten, namentlich „Die Strudlhofstiege“ und „Die Dämonen“, wird in den zwei Früherzählungen den Autor kaum (wieder-) erkennen – bis auf den sprachlichen Reichtum und die ungewöhnliche Metaphorik. Doch Humor, Selbstdistanz, Ironie und erzählerische Finesse mit Weite und Tiefe, die „Umwege“ (nicht nur in der persönlichen Entwicklung seiner selbst und wesentlicher Charaktere in seinen Schriften, sondern ebenso in seiner Dramaturgie)und weitere gerühmte Eigenheiten der Architektur, Diktion und Erzähltechnik, die späteren Werke, einschließlich „Der Mord, den jeder begeht“, „Die Wasserfälle von Slunji“, gar „Die Merowinger“, zum Glänzen bringen, zeichnen sich in den frühen Erzählungen noch nicht bzw. kaum ab. Dies im Gegensatz zu intrapersonalen, psychischen Konfliktkonstellationen, die die komplexe Persönlichkeit Heimito von Doderers ausmachten, in plagten und anspornten, ihn depressive und manische Schübe durchleben ließen, kurz: die ihm zu einzigartigen künstlerischen Gemälden via Sprache verhelfen. In den zwei frühen Erzählungen verlagert berühmte Autor existentielle Konfliktlagen in die jeweilige Hauptfigur, samt ihrer Wahrnehmung und Empfindung von Außenwelt, während er Konfliktcharakteristika in späteren Romanen und Erzählungen verschiedenen Figuren einpflanzt.
Die erste der nun erstmalig veröffentlichten Erzählung, Seraphica, liest sich fast wie ein biblischer Text. Diktion und Vokabular schmiegen sich der mittelalterlichen Lebenswelt an, die Franz von Assi bewohnt. Sorgfältigst recherchiert und eigenwillig getönt schildert Heimito von Doderer Leben und Wirken mit besonderer Aufmerksamkeit auf: innere Konfliktlagen, lebensphilosophische Erörterungen, persönliche Entscheidungen seitens Franziskus. Franz von Assisi, so empfand es der Autor vermutlich, ging ihm nah, weil sich der Heilige Franziskus in seinen zwei Lebensphasen mit inneren Spaltungen konfrontiert sah, die ihn nötigten, sich für eine der zwei Weisen des Lebens zu entscheiden. Die subjektive Färbung der Erzählung verdankt sich der Absicht, die Erzählung als einen Weg zu betrachten, konträre, antagonistische Bestrebungen, Bedürfnisse, Sehnsüchte in sich selbst zu erkennen – modern: metareflektieren – und, so möglich, ein friedliches, gut lebbares Arrangement zu finden. Mit der Reifung (der Doderischen „Menschwerdung“?) gehen bewusste Dissoziation, Sublimierung und Rationalisierung eine höchst fruchtbare Hochzeit ein. Das religiöse Motiv in „Seraphica“ dient Heimito von Doderer dazu, sich mit lebensphilosophischen Fragen zu befassen, die ihn unmittelbar plagten. Die Hauptfigur und die geschilderten Erlebnisse, Dialoge mit Anhängern und anderen Menschen, innere Monologe fungieren als Stimmen für ein Selbstgespräch zu Reflexion persönlicher innerer Nöte. Die religiöse Motivik mag man aufgelebt sehen in seiner späteren Konvertierung zur katholischen Religion. Um sich dem Text und seinen Motiven mit Sympathie zu nähern und die Lektüre nach einem eventualen Befremdnisgefühl oder gar mit etwas Einfühlung und annäherungsweisem Verständnis auf die Erzählung fortzusetzen, dem sei empfohlen, das Nachwort zuerst und dann, nach Lektüre der Doderischen Texte, nochmals zu lesen.
Die zweite kurze Erzählung, Montefal, mutet an, als läse man einen märchenhaften Ritterroman oder eine Sage aus der höfischen Sphäre mit einer Hauptfigur, mit einem inneren Fundamental- oder Kernkonflikt ringt und sich in einer dilemmatischen Situation befindet, die schlussendlich eine Entscheidung von außen entscheidet, nicht löst – und den Ritter damit nicht erlösen kann, sondern in tiefe Melancholie fallen lässt, wohlwissend um den Grund. (Die Erzählung gilt als Vorläufer des Ritterromans „Das letzte Abenteuer“ aus dem Jahr 1953.)
Beide Früherzählungen sind, wenn auch mit anderem Schwerpunkt, aus psychischen Konfliktkonstellationen geboren, die den Autor, sein Leben und Schaffen, sowohl beschwert als auch bereichert haben. Die hier sehr deutlich erkennbaren Spuren werden in den späteren Romanen (auch aus programmatischen Gründen) bis zur Unkenntlichkeit blass, sofern der Leser sich mit der Persönlichkeit und seinem Schreibprogramm kaum befasst hat.