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Wie wir uns täglich die Zukunft versauen

Autor Pero Micic
Verlag econ
ISBN 978 3 430 20160 5

Der Wirtschaftswissenschaftler und Zukunftsforscher (FutureManagement-Group AG) hat eine Vision und eine Mission, die er dem Leser in eindringlichen Appellen, suggestiver Tonlage und zuweilen moralisierender Dramatik sowie mit ausführlichen Beispielen aus Historie und dem gegenwärtigen privaten, unternehmerischen und gesellschaftlichen Leben, Anleihen insbesondere aus Psychologie und Neurowissenschaften sowie – eingedenk der Dringlichkeit, die er empfindet – mit viel Redundanz nahe bringen möchte: Jeder entwickelt ein „Future Me“ im Einklang mit dem „Future We“, das gemeinsam zu kreieren ist.

Diese Begriffe sind plakativ und noch unverbraucht. Die Inhalte, für die sie stehen, sind altbekannt, und auch die konzeptuellen Überlegungen für Future Me und Future We sind keineswegs neu. Die Anleihen aus psychotherapeutischen Konzepten, insbesondere Imaginationsverfahren, NLP, Assoziation und Dissoziation, werden zwar nicht explizit genannt, sind indes offenkundig mindestens Inspirationsbasis für die Ratschläge, die der Autor formuliert, um ein Future Me und We zu entwerfen und zu realisieren. Vielleicht liegt die Hoffnung darin, plakative und unverbrauchte Begriffe ließen aufmerken, neugierig schauen, lesen und beschleunigten das Nachdenken, Diskutieren und – darauf kommt es dem Autor entscheidend an – das Handeln auf Zukunft hin: als „Zukunftsmanagement“.

In den Umkreis plakativer Begrifflichkeit fällt eine weitere, für nüchtern denkende Leser durchaus Stirnrunzeln hervorrufende Redeweise, nämlich die von Teufeln und Engeln. Diese religiösen Figuren, Allegorien, Denkschablonen repräsentieren das, gegen was die Ausführungen zu Felde ziehen bzw. als Lösung globaler Überlebensfragen für unentbehrlich halten, nämlich: das Kurzfrist-Denken (teuflisch) und das Langfrist-Denken (engelhaft). Im Kurzfrist-Denken und -Handeln erkennt der Autor das Hauptproblem heutiger Lebens-, Unternehmens-, Gesellschaftsführung und im Langfrist-Denken und –Handeln die Lösung. (Leider ohne Bezug auf Komplexitätsforschung.)

Beide Kategorien werden insbesondere in den ersten zwei (von drei) Kapiteln ausgiebig hergeleitet, als anthropologisch-biologische und als Eigenheit unseres 3-Sekunden-Gegenwartsgehirns definiert: Kurzfrist-Denken des Homo praesens als primär emotionales und auf unmittelbare Belohnung ausgerichtetes Verhaltensmovens, das Langfristdenken als Möglichkeit, ja als Option unseres Gehirns dank der Fähigkeit, mit dem „rationalen Gehirn“ zu arbeiten, insbesondere Belohnungen zeitlich aufschieben zu können. Neben verschiedenen Quellen aus der experimentellen Psychologie (vermutlich aus der Deprivationsforschung) sowie aus der Entscheidungspsychologie führt der Autor hier das System 1 und 2 von Kahneman an.

Man kann die Begriffe Future Me und Future We als Lösungsvorschläge, als Modell, als Technik oder Strategie lesen oder als alles drei zusammen. Sie können als regulative Idee begriffen werden, die dem kritischen und das Unmittelbare transzendierende Nachdenken auf die Sprünge helfen und zu einem entsprechenden Handeln gemäß System 2, also der rationalen Reflexion mit ihren Stärken wie beispielsweise Belohnungssaufschub, Wirkungsbetrachtung und soziale Orientierung motivieren.

Der dritte Teil widmet sich einer Zukunft, die idealiter mit den beiden Future-Figuren maßgeblich gestaltet werden sollte. Das Normative bedarf keiner ausdrücklichen Erwähnung, da ein bestimmtes Ethos die Ausführungen durchzieht; es wird im dritten Teil lediglich lösungsorientiert besonders exponiert. Neben dem Appell, eine rationale Leistungsfähigkeit im Sinn eines systemischen, eines Blicks zu lernen und zu stärken, dessen Charakteristikum es ist, Neben-, örtliche und zeitliche Fernwirkungen möglichst umgreifend mitzubedenken (sprich: in Begriffen von Komplexität zu denken und zu handeln, was ich vorbehaltlos unterstütze), schleicht sich aus der Verhaltensökonomie allerdings etwas ein, das keinesfalls im Geist höherer Intellektualität, geschweige denn Mündigkeit oder Aufklärung steht, sondern, im Gegenteil, der Konditionierungslogik der Verhaltenstheorie nahe steht und durch das Buch „Nudge“ von Sunstein und Thaler besondere Popularität erlangt hat. Pero Micic scheint sich auf die menschliche Kapazität oder Fähigkeit, langfristig und strategisch zu denken und zu handeln, nicht verlassen zu wollen. Daher fordert er, dass verhaltensökonomisch konzeptualisierte Schubser ins private, unternehmerische, gesellschaftliche Leben (mehr als bisher) eingebaut werden sollten. Diese Wendung überrascht übrigens nicht. Denn der Autor betont mehrmals, es komme darauf an, mit „dem Menschen, wie er ist“ umzugehen und nicht mit einem illusionierten Modell. Pragmatismus als Mittel des Sowohl-Als-auchs: Appell an Rationalitätsressourcen und an Verhalten lenkende externe Maßnahmen.

Das alles liest sich leicht (verständlich), und wer vorzugsweise anhand von mehr oder minder emotional wirkenden Beispielen lernt bzw. seinen Geist öffnet für auch unangenehme Tatsachen und Hinweise, der wird das Buch gern lesen. Für den kursorischen Blick gibt es übrigens hervorgehobene Sätze, die den roten Faden und die dem Autor wichtigsten Botschaften formulieren.

Weiterbildner und Dozenten mögen den Appell hören, sich stärker um Denk-Kompetenzen im Zeichen des Kahnemanschen Systems 2 bzw. im Umkreis des Umgehens mit Komplexem zu engagieren. Diesen Appell kann ich nur unterstützen, zumal angesichts der mentalen, psychischen und behavioralen Sozialisation der digital-mobil-gamifiziert auf(ge)wachsenen jungen Menschen, der Netizens, Generation Y, Maybe, Game Digital Natives u. dgl., die immer mehr als gesellschaftlich gestaltende Subjekte in den Vordergrund rücken. Erstaunlich, dass Pero Micic dieses brisante, gesamtgesellschaftliche Zukunft unmittelbar berührende Thema, das im Rahmen eines Zukunftsmanagements soziologisch und sozialkulturell umkreist werden müsste, nicht erwähnt, geschweige denn, sich ihm näher widmet. Im philosophischen Sinn skeptische Leser werden vor allem auf die nicht explizierten Vorannahmen schauen, auf Thesen, Hypothesen und Argumentation und damit Diagnose und Therapie in einem Licht sehen, das zu einer erhellenden Kontroverse auffordert.

Dr. Regina Mahlmann, www.dr-mahlmann.de

Regina Mahlmann