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Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung

Autor Konrad Paul Liessmann
Verlag Zsolnay
ISBN 978-3-55205-700-5

Konrad Paul Liessmann, Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien, widmet sich einem Phänomen, das, wenn auch zaghaft, allmählich auch in der Bundesrepublik öffentliche Erwähnung findet: der Praxis der Unbildung nicht nur trotz, sondern gerade aufgrund der Ausrichtung von Bildungsinstitutionen und fragwürdigen Kriterien der Bewertung von Leistungen in Schule und Universität. Zu nennen ist hier etwa Volker Ladenthin mit seinem Aufsatz „Es fehlt an Urteilskraft“ (FAZ 5.6.14).

 

Der Autor der Streitschrift widmet sich selbstverständlich den „üblich Verdächtigen“, nämlich Pisa und dem Panorama bildungsreformerischen Eifers. In diesem Kontext nimmt er nicht nur selbst berufene und bedauerlicherweise von öffentlichen Medien so titulierte Bildungsexperten ins Visier kritischer Betrachtung, sondern ebenfalls die Erosion von Fächern (Disziplinen) in Schulen und Hochschulen, die kognitive Unbildung befördernden Aspekten von Power Point [&] Co, den Konnex von Pädagogisierung und Infantilisierung, der sukzessiven Abschaffung der so genannten nicht nützlichen „musischen“ Disziplinen und Institutionen. Zudem widmet er sich dem Verfall der Lesekultur und dem Zusammenhang von Konsum und „Käuflichkeit des Geistes“.

 

Bei der Nennung der thematischen Aspekte mag mancher abwinken „nichts Neues“ – und das ist korrekt. Inzwischen stellen sich nämlich rund um die Digitalisierung von Lernmedien (e-learning, Game based learning) ebenfalls dringende Fragen. Die Praxis unterstreicht die These des Autors von der Unbildung. Auch die eine oder andere Argumentation ist jenen Lesern vertraut, die bereits länger währende Trends in Bildungsfragen (kritisch) verfolgen. Dennoch empfiehlt sich die Lektüre, und als verpflichtend sollte sie für alle gelten, die im Bildungssektor tätig sind. Denn:

 

Konrad Paul Liessmann stellt „geistreich“ Mainstream-Auffassungen in Bildungspolitik und –praxis in Frage – und dieses Infragestellen überschreitet das Klagen über den Status Quo. Wer die Ausführungen liest, tut sich schwer, sie wegzuwedeln mit dem Hinweis, hier schreibe ein Ewig-Gestriger. Ein solches Urteil beurkundete die Unbildung des Urteilers; denn auch wenn das Vorzeichen der Streitschrift explizit die Sympathie für Errungenschaften und Kernbotschaften der Aufklärung ist: Die Anliegen, die formuliert werden, gelten schlussendlich der Frage, was es bedarf, um eine demokratische Gesellschaftsform nicht nur mit Ausbildung, sondern mit Gelegenheiten für Bildung zu versorgen, die ihrerseits nötig sind, damit eine demokratische Gesellschaft sich selbst aufrecht erhalten kann (und im Sinn von Aufklärung und Humanismus ein Leben auch jenseits von Verwertungs- und Utilitätsinteressen führen zu können).

 

Die Argumentationen etwa rund um den Kompetenz-Begriff und seine Absurditäten (dazu ausführlich auch Roland Murgerauer: Kompetenzen als Bildung? Die neuere Kompetenzorientierung im Deutschen Schulwesen – eine skeptische Stellungnahme. Tectum, Marburg 2012) oder die Unterscheidung von Ausbildung und Bildung sowie deren Funktion in einer demokratisch verfassten Gesellschaft oder die Frage danach, welche kognitiven Auswirkungen euphemistische Bewertungen von Leistungen in Schule und Universität außerhalb dieser Bildungsinstitutionen sowohl für die Betroffenen als auch für die Gesellschaft haben, werden pointiert und bewusst polemisch angesprochen. (Die Kapitel werden eingeleitet durch die Worte: „Es ist gespenstisch“; die diagnostischen und analytischen Aussagen münden in ein polemisch formuliertes Fazit, dem ein ironischer Abschnitt „Dabei wäre alles ganz einfach“ mit Vorschlägen für Veränderung folgen.)

 

Der elegant geschriebenen Streitschrift ist eine große Leserzahl zu wünschen – und eine hohe Anzahl an Erwiderungen, kurz: eine Debatte. Denn selbstredend muss man auch dann nicht jedes Argument, jede Analyse, jede Schlussfolgerung und weniger oder mehr ernst gemeinte Vorschläge affirmativ aufnehmen, auch dann nicht, wenn man die Hauptthese von der Praxis der Unbildung teilt. Exakt das ist ja die Funktion und Intention einer Streitschrift: Aufzuwecken, Widerrede zu provozieren und im Rahmen einer Kontroverse einander mit Argumenten zu begegnen. In diesem Sinn: Widersprechen Sie!

 

Dr. Regina Mahlmann, www.dr-mahlmann.de

 

Regina Mahlmann