Geh hin, stelle einen Wächter
Autor | Harper Lee |
Verlag | DVA |
ISBN | 978-3-421-04719-9, |
„Von der Autorin des Weltbestsellers Wer die Nachtigall stört“ sagt der „Übertitel“ – und wem jener entgangen ist (mir z.B.!), möge ihn zuerst lesen, wenn auch der aktuell erschienene Roman der eigentliche Erstling von Harper Lee ist (s.u.; auch „den anderen“ habe ich hier besprochen!). Und wie zeitgemäß der Diskurs dieses Romans heute ist, dort zentriert auf das Rassismus-Thema der USA, 60 Jahre nach seinem Entstehen, auch weit entfernt von seinem Spiel-Ort, mag dieses eine Zitat belegen (S. 284, Scout speaking): „… dass Gott sie liebt hat, aber möchte, dass sie in Afrika bleiben? Dass es ein großer Irrtum war, sie herzubringen, und dass es ihre Schuld ist? … dass es aber ganz unterschiedliche Arten von Menschen gibt, mit einzelnen Zäunen um sie herum …, dass jeder Mensch so weit gehen kann, wie er will, aber nur innerhalb des Zauns …“, der ggf. schon mal von Anderen um ihn herum gebaut wird – dafür haben wir vielerlei Beispiele im Jahr 2015. Der eigentlich ein Bildungs-Roman ist: „… die bewegende Geschichte einer Tochter, die sich von ihrem geliebten Vater emanzipieren muss, um zu sich selbst zu finden.“ Mit offenem Ende, übrigens! Wieviel hiervon auch Marketing sein mag, so gelungen ist die Publikation kurz vorm 90. Geburtstag der Autorin: „Sensationeller Manuskriptfund – das literarische Ereignis im Sommer 2015. Harper Lee hat bisher nur einen Roman veröffentlicht, doch dieser hat der US-amerikanischen Schriftstellerin Weltruhm eingebracht: „Wer die Nachtigall stört“, erschienen 1960 und ein Jahr später mit dem renommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet, ist mit 40 Millionen verkauften Exemplaren und Übersetzungen in mehr als 40 Sprachen eines der meistgelesenen Bücher weltweit. Mit „Gehe hin, stelle einen Wächter“ – zeitlich vor „Wer die Nachtigall stört“ entstanden – erscheint nun das Erstlingswerk. (Es spielt) 20 Jahre später: Eine inzwischen erwachsene Jean Louise Finch, „Scout“, kehrt zurück nach Maycomb und sieht sich in der kleinen Stadt in Alabama, die sie so geprägt hat, mit gesellschaftspolitischen Problemen konfrontiert, die nicht zuletzt auch ihr Verhältnis zu ihrem Vater Atticus infrage stellen. Ein Roman über die turbulenten Ereignisse im Amerika der 1950er-Jahre, der zugleich ein faszinierend neues Licht auf den Klassiker wirft. Bewegend, humorvoll und überwältigend – ein Roman, der seinem Vorgänger in nichts nachsteht.“ Und der doch sprachlich deutlich anders ist, vielleicht eher die „echte“ Harper Lee, weniger beeinflusst von Lektoren und Agenten? (Wenn es auch Passagen gibt, die seinerzeit wörtlich übernommen wurden – was naturgemäß erst die Lektüre des „Wächters“ klar macht …) Die Sprache kommt mir „erwachsener“ vor, was am Schreibe-Stil liegen mag: Weniger Dialoge, mehr Denken (dann übrigens in Ich-Form, bei Scout!) – und in späteren Passagen fast zu affirmativ-auffordernd: Dort fühlte ich mich – man unterlasse das Lachen – tatsächlich an die Schreibe von Ayn Rand erinnert, die doch einer scheinbar völlig anderen „Philosophie“ nachhing, stark darwinistisch, einem Recht des Stärkeren, sich selbst Stärkenden – für viele US-Republikaner noch heute Pflicht-Lektüre (stärke den Einzelnen, zwinge den Staat zurück). Doch tatsächlich argumentiert Scout in manchen Passagen genau so, vernachlässige die Gemeinschaft, folge strikt deiner Meinung (wobei die ihre mir weitaus besser zusagt als jene von Ayn Rand). Hier trifft heißer Jungspund (von immerhin auch schon 26 Jahren, doch sicherlich stark spätpubertär, auch im Verhalten zu ihrem Freund Henry-Hank) auf abgeklärten alten Herrn (von 72), der eher abwägt und entsprechend handelt, letztlich durchaus manipulativ: „Der Wächter eines jeden Menschen, Jean Louise, ist sein Gewissen. So etwas wie ein kollektives Gewissen gibt es nicht.“ Wobei die große Kluft zwischen Tochter und Vater besonders dadurch „ermöglicht“ wird, dass in diesem Ur-Manuskript Atticus den fälschlich der Vergewaltigung angeklagten „Neger“ tatsächlich frei bekommt – in der später geschriebenen Fassung des dann zuerst erschienenen Romans ist das (für damals) realistischer dargestellt: Er wird verurteilt und später auf der Flucht erschossen – der überraschende Fortschritt liegt darin, dass die Geschworenen Stunden brauchen, ein einstimmiges Urteil zu finden. So gesehen, wäre die Diskrepanz der Sichtweisen weniger klaffend, weil Scout schon näher am Verständnis des Vaters an und in dieser Situation wäre … Gesprächs-Führung, Verhandeln, Kommunikation – eine Menge interessanter Ansätze ist geboten, über „reine Unterhaltung“ eines Romans hinaus … HPR