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Autor Paul Auster
Verlag Rowohlt
ISBN 978-3-498-00097-4

Quasi zu seinem 70. Geburtstag erschien dieser neue Auster-Band auf Deutsch. Wieviel Autobio steckt da drin, in diesem „Opus magnum“, in den Lebensgeschichten (!) des Abkömmlings jüdischer Einwanderer, geboren in Newark am 03.03.47, also exakt einen Monat nach Auster am selbigen Ort?

Die Übersetzung – eine Herausforderung
Ein Roman von mehr als 1.250 Seiten Umfang (im Deutschen) – das fordert auch die Übersetzung. Hier exzellent geleistet gleich von vieren, die wohl je einen der vier Stränge übernommen haben. Den Hinweis sucht Leser zwar vergeblich, doch das unterstelle ich mal als logisch … Wobei einer von ihnen rasch fertig gewesen sein dürfte: Die zweite Lebenslinie endet jäh. Und so früh, dass dies auch verraten werden darf, ohne dass ein Spoiler entstünde: Schon ab 3.2 findet der Leser jeweils nur eine leere Seite … Mit der Hauptperson stößt LeserIn zudem auf diverse Begriffe, die mehr oder weniger neu sein mögen und damit interessant: Prolusion (bei Milton?!) oder auch Hypotaxe = verschachtelter Satz (Tag der Hypotaxe = 25. Februar – das und den kannte ich naturgemäß, als Texter…), worunter Leser bei Auster nicht zu leiden hat: Er findet zwar teilweise Sätze, die über annähernd eine volle Seite andauern. Jedoch schlicht als Folge davon, dass dies ein komprimierten Gedankenfolge einer Person entspricht = Verzicht auf Satzzeichen wie Punkt oder Doppelpunkt … Prokrastination andererseits nicht, obwohl mancher Ferguson in seiner Dimension darunter durchaus leidet  …

Erinnert an Comic …
Auch Comics kommen zu ihrem Recht, jedenfalls in einer der vier Lebenslinien: MAD, Superman – und Zeitungs-Strips, recht US-amerikanisch also. Sie „fehlen“ im Straßenritter, den einer der Archies kurzzeitig herausgibt, eine Art Schülerzeitung – handschriftlich per ? Matrize vervielfältigt. Doch außer dass Comics vorkommen, gibt es mehr zu entdecken:

Dieses sequenzielle Erzählen in Fortsetzung spiegelt in reiner Schreibe die Bilderfolgen von Comics, quasi von Panel zu Panel die Geschichte entdeckend und erschließend – und derlei beschäftigt den Autor absolut, siehe: wiederkehrendes Thema Kino. Mal ist Archie begeisterter Laurel-Hardy-Fan, mal schläft sein (leiblicher) Vater Stanley regelmäßig ein, später durchaus auch zuhause beim Fernsehen.

Und auch dies erinnert an Comic: Während meines ersten Lese-Durchgangs überlege ich bereits, das Buch nochmals zu lesen: Dann jeden Strang durchgängig, um den jeweiligen Ferguson zu erleben statt den jeweiligen Teil parallel. Auch das durchaus mit unterschiedlichem Lese- und Seh-Vergnügen beim Comic vergleichbar: wöchentlich zum Beispiel in Fortsetzung unterschiedliche Strips, danach (gesammelt oder als Comic-Book) im kompletten Ablauf einer Geschichte … Dazu mehr auf www.comicoskop.de!

Ja, die Medien!
Medien spielen naturgemäß eine große Rolle in diesem Roman, der den Leser aus unterschiedlichen Perspektiven durch das Weltgeschehen führt, vom Anfang des 20. Jahrhunderts beim Einwandern der Vorfahren bis zur Watergate-Affäre. Die jüdische Familie, das Dasein von Juden setzt dem Betrachter dabei häufig eine spezielle Brille auf, eine außergewöhnliche: Religion, Rasse, sexuelle Orientierung – und natürlich: Weltanschauung, liberal damals = Kommunismus. Und Auster schwelgt geradezu in Medien, seien es Kino und Fernsehen – eben Film , seien es Zeitung und Zeitschrift (auch schreibend: Ferguson, fotografierend: seine Mutter) – sei es Buch … In einer Zeit lange vor dem Internet! Schreibmaschine war das „device“ der Stunde, darüber kann der Autor sich richtig fein verbreiten!

Eine Fülle von Reflexion …
…und Meta-Perspektiven ist dieser „Schinken“. Etwa, wenn einer der drei noch lebenden Fergusons im Alter von 18 Jahren eine Erzählung in drei (!) Strängen schreibt, im Erleben eines Laszlo Flute, die in teils unterschiedliche, teils überschneidende Inhalte führt. Und die er dann mit seiner Bewerbung um ein Princeton-Stipendium einreicht. Das er dann auch erhält, als einer von vier erfolgreichen Bewerbern unter vielen Hundert landesweit. Und das übrigens das Walt-Whitman-Stipendium ist. Warum ist das erwähnenswert? Nun, gerade (im Frühjahr 2017) gibt es einen Rummel rund um diesen US-Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, berühmt für seine Gedichte. Alldieweil ein Manuskript von ihm entdeckt wurde, das seine (einzige nun bekannte) Erzählung beinhaltet – in Kürze veröffentlicht: „Leben und Abenteuer von Jack Engle“ soll in zwei Verlagen erscheinen, wohl noch Ende 2017 …

So pointiert der Verlag den Vierfach-Roman …
„Paul Auster, der bekannte amerikanische Bestsellerautor, legt in Gestalt eines Rätselspiels sein bisher umfangreichstes Werk und Opus magnum vor: die vierfach unterschiedlich erzählte Geschichte eines jungen Amerikaners in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts – ein Epos voll mit Politik, Zeitgeschichte, Liebe, Leidenschaft und dem wechselvollen Spiel des Zufalls. ‚4 3 2 1‘ – das sind vier Variationen eines Lebens: Archibald Ferguson, von allen nur Archie genannt, wächst im Newark der fünfziger Jahre auf. „Was für ein interessanter Gedanke“, sagt er sich als kleiner Junge, „sich vorzustellen, wie für ihn alles anders sein könnte, auch wenn er selbst immer derselbe bliebe. Ja, alles war möglich, und nur weil etwas auf eine bestimmte Weise geschah, hieß das noch lange nicht, dass es nicht auch auf eine andere Weise geschehen konnte.“
Im Verein mit der höheren Macht einer von Paul Auster raffiniert dirigierten literarischen Vorsehung entspinnen sich nun vier unterschiedliche Versionen von Archies Leben: provinziell und bescheiden; kämpferisch, aber vom Unglück verfolgt; betroffen und besessen von den Ereignissen der Zeit; künstlerisch genial begabt und nach den Sternen greifend. Und alle vier sind vollgepackt mit Abenteuern, Liebe, Lebenskämpfen und den Schlägen eines unberechenbaren Schicksals … ‚4 3 2 1‘ ist ein faszinierendes Gedankenspiel und ein Höhepunkt in Austers Schaffen. Seine großen Themen, das Streben nach Glück, die Rolle des Zufalls, Politik und Zeitgeschichte von Hiroshima bis Vietnam – alle sind hier versammelt und verdichtet in den hoffnungsvollen Lebenswegen eines jungen Mannes, der sein Glück in der Welt zu finden sucht.“ Und schließlich herzlich über den besonderen Witz lachen kann, den ihm seine Mutter erzählt: Wie aus seinem Vorfahren Reznikoff statt (wie von einem Mitreisenden angeregt) Rockefeller dann ein „Ferguson“ wird. Darauf freue sich Leser gleich zu Anfang des Buches …

Vierfach-Spiel wiederkehrend?
Welch ein Zufall, dass ich quasi zeitgleich hierauf stoße: „Der Roman des Freiherrn von Vieren“, in Wirklichkeit von vier Autoren des 19. Jahrhunderts als Gemeinschaftswerk entstanden – und zugleich mehrere Identitäten spiegelnd: „Der »Roman des Freiherrn von Vieren« ist das Gemeinschaftswerk einer Dichtergruppe um E. T. A. Hoffmann, Adelbert von Chamisso, Karl Wilhelm Salice-Contessa und Friedrich de la Motte Fouqué. 1815 begonnen und Fragment geblieben, erzählt dieses amüsant-romantische Experiment die Geschichte des Malers Georg Haberland, der wie seine beiden Doppelgänger auf der Suche nach der idealen Mädchengestalt ist.“ „Die Serapionsbrüder“ nannte diese Gruppe sich übrigens … (Zu untersuchen bliebe, inwieweit „Serapion“ und „Ferguson“ etymologisch miteinander zu tun haben: „Entflammter“ und (Sohn von) „Starker Mann“, hmm …) HPR

Hanspeter Reiter