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Bildung braucht Persönlichkeit

Autor Roth, Gerhard
Verlag sonstige
Seiten 354 Seiten
ISBN 978 3 608 94655 0
Preis 19,95

Dem promovierten Philosophen und Biologen und Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen ist ein mutiges und umsichtiges, ermutigendes und lehrreiches Buch zu verdanken, dem der Leser das Interesse an einer synergetischen Kombination von neurobiologischen, pädagogischen und philosophischen Aspekten – mental wohltuend – anmerkt. Die Ausführungen dokumentieren, dass es Gerhard Roth um eine fast schon kulturwissenschaftliche Einkreisung seines Gegenstandes geht: der Persönlichkeit. Jedenfalls nähert er sich ihr aus immerhin den drei erwähnten Perspektiven, die – siehe unten – um eine wissenschaftsgeschichtliche mit soziologischen Akzenten erweitert wird.

Der Autor weicht – nun nicht mehr erstaunlich – keinesfalls davor zurück, dem seit der griechisch-philosophischen Antike strittigen wie in vielen Farben schimmernden Begriff der Persönlichkeit zu bestimmen, sowohl in geistes- als auch in neurowissenschaftlichen Kategorien. Der primär psychologisch verfasste Persönlichkeitsbegriff wird kombiniert mit Erkenntnissen aus der pädgagogischen und psychologischen Lernforschung und –empirie und später neurobiologisch (anatomisch, neurochemisch). Persönlichkeitsentwurf und Lernforschung bilden sowohl Zentrum als auch Rekurspunkt und Referenzrahmen für Diagnosen und Empfehlungen bezüglich Lehr-Lernfelder, -umgebungen/landschaften, für Lehr-Lernmethoden bzw. –stile, für Lehr-Lernempfehlungen. Unterfüttert werden

Die einen Leser mögen während der Lektüre denken: „Na – das ganze hirnwissenschaftliche Brimborium brauche ich gar nicht – Bildung ist nötig und hat unmittelbar mit den Persönlichkeiten von Lehrenden und Lernenden zu tun. Darauf muss bei pädagogischen Konzepten besonders Wert gelegt werden.“ Diese Leser sollten Gerhard Roths Erläuterungen aufmerksam lesen, die sich auf die Bedeutung hirnwissenschaftlicher Erkenntnisse in einem pädagogischen Umfeld beziehen.

Die anderen Leser begrüßen die neurobiologischen Darstellungen, Hinweise, Erklärungen als im wörtlichen Sinn Grund legende Erkenntnisse, mit denen sie entweder erstmalig oder besser verstehen können, was bis dato psychologisch-spekulativ angenommen und empirisch mehr oder minder validiert worden ist. Dieser zweiten Lesergruppe wird dieses Buch nicht nur viel Lesevergnügen bereiten: Gerhard Roth schreibt selbst da, wo er polemisch wird, konstruktiv und von Fakten geleitet, also sachlich bezogen und eloquent. Die Lektüre räumt zudem auf mit verbreiteten Irrtümern und streicht im Rahmen von Lernen wichtige Aspekte gleichsam fett geschrieben hervor. Zu den Irrtümern zählt – endlich schreibt das `mal jemand – Lernen müsse mit Begeisterung (Gerald Hüther), also mit intensiven Emotionen einhergehen. Den Zweifeln der Rezensentin gibt Gerhard Roth Nahrung: Ebenso wie intensive negative Gefühle können intensive positive Gefühle Lernen be- oder gar verhindern. Zu den Hervorhebungen gehören etwa Aspekte bezüglich des Schlafens und des Wiederholungsrhythmusses beim Lernen, um Inhalte im Langzeitgedächtnis zu speichern.

Sehr ansprechend auch die knappen Darstellungen strittiger oder einander ablösender erkenntnistheoretischer Positionen (z.B. radikaler Konstruktivismus) und Konzepte in Psychologie und Pädagogik und deren wissenschaftsgeschichtliche und ideologische Einordnung in Vergangenheit und Gegenwart. Wo immer möglich, verknüpft der Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes geistes- oder sozialwissenschaftliche mit neurobiologischen Fakten, Vermutungen, Erkenntnissen. Etwa bezüglich des Zentralbegriffs Persönlichkeit: aus psychologischer und neurobiologischer Sicht, einschließlich frühkindlicher Erfahrungen, die sich seelisch-geistig und biochemisch, neurobiologisch niederschlagen und pädagogisch relevant werden – spätestens dort, wo frühkindliche Bindungserfahrungen in dauerhafte Störungen der Hirnchemie und folglich in neuronale Verschaltungen münden, die motiviertes Lernen (das immer individuell ist) und das Entfalten einer souveränen Persönlichkeit im Vergleich zu Gerhard Roths Ideal erschweren.

Die klugen Ausführungen laden durchaus zu kontroverser Diskussion ein. Zu den wichtigsten Botschaften gehören:

  • Persönlichkeit (Selbstwirksamkeit und –kontrolle, Motivation und Ausdauer, Empathie und Realitätssinn) auf beiden Seiten, des Lernenden und des Lehrenden, geben letztendlich den Ausschlag für Lehr-Lernerfolg.
  • Lernen ohne Fleiß, Geduld, Ausdauer, Rückschläge gibt es nicht – angstfrei: ja, disstressfrei: nein.
  • Lehrer sollten sich selbst prüfen: die Kategorien der Persönlichkeit an die Selbstbetrachtung legen und schauen, wo sie wachsen, sich weiterbilden müssten.
  • Neurobiologie als Grund legende Wissenschaft, die Beiträge leisten kann, um effektive Lehr-Lern-Modelle zu entwerfen, die sich in praxi bewähren, etwa in dem Design von Unterricht.
  • Lehrer sollten sich konzeptuell zusammenschließen und einen Unterricht entwerfen, der dem assoziativen Operationsmodus des Gehirns nahe kommt: thematische Vernetzungen über das eigene Fach hinaus nach dem Modell interdisziplinären Arbeitens (Projektarbeit) gestalten.
  • Lehren ohne Autorität ist nicht möglich – Lehrer sollen souverän sein und diesen Teil der asymmetrischen Beziehungsstruktur akzeptieren und utilisieren.
  • Es gibt allgemeine Erkenntnisse über Intelligenz und Anhaltspunkte für effektive Lehre. Sie sollten berücksichtigt werden – im Bewusstsein, dass Lernen und Lehren unausweichlich individuell neuronal und psychisch rekonstituiert werden müssen. Gute im Sinn von effektive Lehre bietet Individualisierungsoptionen für Lehrer und Lerner und nutzt einen hirn-,

Dieses Buch sollten nicht nur Lehrer lesen, sondern Weiterbildner, besonders jene, die mit Kindern, Heranwachsenden und jungen Erwachsenen arbeiten; auch und gerade jene Entwickler, die analoge und digitale Lernprogramme entwerfen, profitieren. Ich jedenfalls wünsche diesem Buch viele Leser.

Dr. Regina Mahlmann, www.dr-mahlmann.de

Dr. Regina Mahlmann