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Dämmerschlaf

Autor Edith Wharton
Verlag Manesse
ISBN 978 3 715 2172 3

Die 1927 in zwei Verlagen erschienene Satire auf die New Yorker Upperclass in den 1920er Jahren könnte – so auch Verena Lueken in ihrem informativen Nachwort – fast als Gegenwartsbeschreibung durchgehen.

Auf der einen Seite der Typus (verkörpert von Pauline Manford), deren Terminkalender täglich gefüllt ist, um den Pflichten des High Society Daseins so nachzukommen, dass die gegebenen Gesellschaften zu den gesuchten und dem gesellschaftlichen Dabeiseinmüssen gehört und auch, um die innere Leere zu fliehen, nach der – so Pauline in einer Szene – bereits eine Stunde unverplante Zeit eine Ewigkeit bedeuten. Pauline könnte den rezenten Typus des Selbstoptimierers trefflich darstellen: nicht nur verplant und praktisch, zielbezogen agierend, sondern gleichzeitig Hilfe und Heil suchend in spirituellen Milieus und bei entsprechenden Gurus, einschließlich dem Erliegen der Verführungskraft simpler Wahrheiten und Rezepte, um physisch wie geistig-seelisch optimistisch zu werden bzw. zu bleiben, und somit auch handlungsfähig im Strom der sozialen Erwünschtheit.

Auf der entgegengesetzten Seite der Typus des dämmerschlafenden nichts Nützliches denkenden und tuenden Menschen, inkarniert in der Schwiegertochter. Sie verbringt ihre Tage in einem Dämmerschlaf der Unverbindlichkeit, Langeweile, Verantwortungslosigkeit und gebiert auch ihr Kind in einer Dämmerschlafklinik, die schmerzfreies Gebären ermöglicht.

Auf der spitzen Seite des Dreiecks könnte man Paulines Tochter platzieren, die sich zumindest um rationale Vernünftigkeit bemüht (gleichwohl scheitert) und nüchtern und auf der Suche nach Sinnhaftigkeit ihr Leben organisiert.

Dazwischen oder innerhalb des Dreiecks wuseln sozusagen Mixturen herum, deren Akzent das Personspezifische ausmachen. Bemerkenswert ist noch Paulines Gatte, Anwalt, der versucht, der Verplantheit durch seine Frau und folglich gesellschaftlicher Pflichten zu entkommen – durch tatkräftige Unterstützung von ärztlicher Seite durch eine Diagnose, die heute als Burnout reüssiert.

Die Satire zu lesen, ist ein Genuss. Sprachlich konzise, ohne Dekor und dennoch metaphorisch (und hier sehr reizvoll) gewährt Edith Wharton auch in diesem Roman einen ironischen und humorvollen Blick in die Upper Class der Goldenen Zwanziger. Nebenbei kann der Leser die zeitdiagnostische Brille der Gegenwart aufsetzen und sich im Anschluss kulturphilosophischen und –kritischen Betrachtungen hingeben. In jedem Fall kann er bemerken, dass die vermeintliche Einzigkeit gegenwärtiger Moden und Trends (Beschleunigung, Selbstoptimierung, selfishness, Esoterik…) keinesfalls erstmalig auftritt. Insofern: Nichts qualitativ Neues – und das kann sehr wohl tröstend wirken und zuversichtlich nach Alternativen suchen.

Regina Mahlmann