Skip to main content

Das soziale Tier

Autor Brooks, David
Verlag Deutsche Verlagsanstalt
ISBN 978 3 421 04531 7

Der als konservativ bekannte Publizist bringt eine Vielfalt kulturwissenschaftlicher, sozial-, individual- und neuropsychologischer Fragestellungen und Erkenntnisse in seinem Buch unter, indem er – an die Rousseaus „Emile“ anlehnend – die Methode der Idealtypisierung nutzt und den Leser mit den Lebensläufen zweier „Kunstfiguren“, Harold und Erica, vertraut macht. Harold ist Sohn im Milieu amerikanischer oberen Mittelschicht, Ericas Milieu ist das zweier Herkunftskulturen, die mal als chinesisch-mexikanisch, mal als latino-asiatisch beschrieben und ausbuchstabiert wird. Das Künstliche der Figuren, ihre Konstruiertheit, zuweilen ausgiebig als Sprachrohr für Einstellungen und Meinungen des Autors dienend, sollte der Leser stets gedanklich mitlaufen lassen; denn ab und zu mag sich ein ablehnendes Gefühl einstellen, weil das Pathos sehr ausgeprägt durch die Zeilen spricht.

 

Die Geschichte dieser beiden Figuren wird romanartig eingebettet in die Geschichte ihrer Eltern, zuweilen Großeltern, der Familie und läuft auf das Zusammentreffen und schließlich das Paarleben und schließlich den Tod eines der Protagonisten zu.

 

In der gesamten Erzählung wechselt David Brooks, als allwissender Erzähler fungierend, die Perspektiven und schildert lebendig das Heranwachsen, das Leben in Peer-Groups, das Arbeits(er)leben und die inneren und äußeren Nöte der Charaktere und nimmt dieses Erleben jeweils als Stichwort für das Einweben wissenschaftlicher Erkenntnisse und Interpretationen und – in unterschiedlicher Intensität – eigener Positionen zu den jeweiligen Themen, die in den Überschriften der Kapitel ausgedrückt sind, etwa Kultur, Verantwortung, Politik.

 

Das Stichwort „soziales Tier“ fällt übrigens erst spät, nach mehr als 300 Seiten. Doch die diesbezüglich zentrale Botschaft läuft stets mit: Zwar haben Menschen als Individuen entscheidenden Einfluss auf ihr Leben; gleichzeitig indes bestimmen sie nicht allein, individualistisch, ihr „Schicksal“, sondern sind maßgeblich abhängig von Umfeldeinflüssen, die die Rahmenbedingungen bilden. Zudem – das ist eine weitere Kernbotschaft – seien Menschen geleitet von nicht-bewussten Vorgängen (genetisch, neurologisch, psychologisch, kulturell). In zahlreichen Passagen überzeichnet David Brooks das „rationalistische“ Paradigma, um das „intuitionistische“ umso heller erstrahlen zu erlassen – selbstverständlich unter Verweis auf neurowissenschaftliche, aber auch auf Befunde, die kulturwissenschaftliche Forschung und schlichtes Erleben zu Tage gefördert haben.

 

Ein Buch, das in manchem Leser Ambivalenz entfachen wird; denn neben vielfachem affirmativen Nicken, gibt es Passagen, die Stirnrunzeln hervorrufen. Also ein Buch, das dazu einlädt, selber zu reflektieren und engagiert zu diskutieren. Denn es geht nicht einfach um Biographien und die Rolle des Nicht-Bewussten, sondern um gesellschaftspolitisch gestaltende Impulse und Statements.

Hanspeter Reiter