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Das System der Abweichungen

Autor Schleiffer, Roland
Verlag Carl-Auer
ISBN 978 3 89670 828 1

Es ist durchaus instruktiv, sich bei der Lektüre des primär theoretisch-konzeptionell ausgerichteten Buchs zu gegenwärtigen, dass der Autor Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapeutische Medizin und seit Mitte der 1990er Jahre Professor für Psychiatrie und Psychotherapie (Köln) und damit sowohl praktisch als auch theoretisch versiert und keinesfalls im Elfenbeinturm purer Theorie anzutreffen ist.

 Die „Neubegründung“ Psychopathologie (und mit ihr eines Teilbereichs:der Entwicklungspsychopathologie, eine erst drei Jahrzehnte junge wissenschaftliche Disziplin) läuft im mentalen und theoretischen Rahmen der „differenztheoretischen“ oder „differenzialistischen“ (R. Schleiffer) funktionalen Systemtheorie des Soziologen Niklas Luhmann. Der Autor nimmt die Theorie sozialer und autopoietischer Systeme und bezieht sich auf die Psychopathologie. 

Verheißt bereits das Vorwort des bekannten „Systemikers“ Fritz B. Simon eine hochspannende Lektüre, lassen die anspruchsvollen Ausführungen Roland Schleiffers denn auch keinen Zweifel daran, dass Anhänger systemtheoretischen Denkens eine an Inspirationen und Lehren reiche Lesenszeit verbringen und gar manchen Gedanken der Luhmannschen Theorie konkret(er) erfassen, indem das Tuch Systemtheorie der Disziplin der (Entwicklung-)Psychopathologie übergeworfen wird und der Autor zudem an Falldarstellungen verdeutlicht, was seine theoretischen Gedanken für Praxis bedeuten.  

Das heißt auch: Unabdingbar ist eine Grundkenntnis der Luhmannschen Systemtheorie. Dazu muss man nicht unbedingt dessen Schriften um eine Theorie sozialer Systeme gelesen haben (der Autor zitiert ihn häufig). Fritz B. Simons Bücher und Einlassungen sind bekannt dafür, sich an Niklas Luhmann zu orientieren, und in vielen Veröffentlichungen führt er die wichtigsten Begriffe und Denkfiguren mit Bezug auf unterschiedliche Systeme ein.  

Dieses Vorwissen hilft, die Ausführungen des Autors zu verstehen, die sich auf die für die „Reflexionsdisziplin“ der Psychiatrie, eben die Psychopathologie, unerlässlichen Termini und Konzepte beziehen. Um den Gedankengang am ehesten gänzlich mitvollziehen zu können, empfehle ich, nach dem Vorwort und den Kapiteln 1 und 2 den Epilog zu lesen und erst dann in die Kapitel 3 bis 6 (die sich einzelnen psychotischen „Erkrankungen“ widmen) einzusteigen.  

Diese Reihenfolge hat eine zweite Funktion: Man erliegt der Falle nicht, die Zentrierung auf funktionale Analyse und Suche nach funktionalen Äquivalenten als „inzwischen banal“ abzutun. Dies scheint zuweilen verlockend, weil die Zuschreibung von „Sinn“ oder „sinnhafter Anpassung“ in der Logik von „Abweichung und Krankheit als eufunktionale Anpassungsleistungen“ und als „Kompetenz“ (Gunther Schmid) sprachlich seit Jahrzehnten kolportiert wird. Wer dieser Verführung des Kurzschlusses erliegt, versäumt es, fein- und scharfsinnige Unterscheidungen der Anfänge einer Theorie autopoietischer und hier: psychischer Systeme (18) und einer systemtheoretischen Psychopathologie gedanklich mitzugehen, die als allgemeine Theorie und „Erklärungsverfahren“ (220), als klassische Beschreibungs- und Diagnoseschemata ergänzende transdiagnostische Theorie (222) oder auch fundamentale Theorie zu einem radikalen Wechsel von Verständnis-, Betrachtungs- und Beobachtungsweisen auffordert, die die Neubegründung erst ausmachen. 

Beispiel Funktion. Die Aussage: „Jede Devianz hat einen Sinn für das Individuum“ oder auch „Krankheit als Chance“ und ähnliches ruft vielleicht bei dem einen oder der anderen ein „Kenn` ich alles“ hervor. Aber: Krankheit und Gesundheit als „Selbsthilfemechanismen“ werden enttrivialisiert. Wodurch?  

In Rede steht nicht der Mensch, sondern die differenzierende Rede von drei Systemen mit je eigener Logik und Dynamik. Es geht nicht um Individuen, sondern um Systeme: um biologische (Biochemie), psychische (Bewusstseinsprozesse), soziale (Kommunikation) Systeme, die je autonom, strukturdeterminiert, operationell geschlossen und informationell offen sind und die sich autopoietisch am Leben halten.  

Es gibt keine direkten Beziehungen, Übertragungen oder Beeinflussungen von „Gesellschaft“, „Familie“ und „Klienten“, sondern nur via Irritation ausgelöste Anpassungsprozesse. Zwar bedingen sich psychisches und soziales System wechselseitig, und das biologische System ist – basal – Bedingung der Möglichkeit von beiden. Aber aufgrund der operativen Geschlossenheit verschmelzen die Systeme nicht, sondern ist Beeinflussen immer vermittelt über strukturelle Kopplung und Interpenetration.  

Weitere systemtheoretische Begrifflichkeiten und Unterscheidungen enttrivialisieren, verlocken auf den ersten Blick dennoch zum Kenn-ich-schon.

Beispiel Problem: Im Rahmen der funktionalen Analyse und unter differenzialistischem Vorzeichen (System/Umwelt-Differenz) wird die traditionelle Auffassung von Problem“kausalität“ umgekrempelt: Gilt normalerweise ein beobachtetes Verhalten als Problem, zu dessen Lösung Heuristiken erarbeitet werden sollen, gilt: erst das Problem, dann die Lösung. Die funktionale Analyse konstruiert das Problem gewissermaßen um das Lösungsverhalten herum. Das beobachtete Verhalten gilt ihr als Problemlösungsversuch, und gefragt wird danach, welche Funktion er hat und damit danach, welches Problem gelöst werden soll. Doch auch dies ist erst ein Aspekt der Problemanalyse. Des weiteren gilt: Die funktionale Analyse stellt Vergleiche an – ganz im Sinn des Diktums (!): Ein Problem ist nie singulär, sondern Element eines Problemkomplexes (analog Problemlösungsversuche). Es gibt Verweisungs-, Bahnungskorrelationen, und vielleicht lässt sich hier sogar mit der postmodernistischen Figur des Rhizoms zusätzlicher Erkenntnis-, zumindest Illustrations- und Plausibilitätsgewinn verzeichnen (die zudem auch sprachphilosophisch ergiebig ist). Die Vergleiche richten sich auf a) differente Verhaltensweisen und die Frage, inwieweit ihnen die gleiche Funktion zukommt: inwieweit sie als funktional äquivalent (gleichwertig) gelten können; und b) wird überprüft, inwieweit mit einem Verhaltensmuster unterschiedliche Funktionen bedient werden können (z.B. ein ungewöhnliches Selbstkonzept als Stabilisierung des Identitätsgefühls oder als Welt strukturierende Hilfe). 

Spannend wird es an zahlreichen Passagen, wenn der Autor scheinbar vertraute Sachverhalte und Gedanken formuliert – nur, um sie systemtheoretisch zu wenden und dadurch zu entfremden oder – wie ein Kollege zitiert wird. Entsprechend wären weitere Beispiele anführbar, die verdeutlichen, welche Auswirkungen funktional-systemische Unterscheidungen und Termini (Beobachter, Selbst- und Fremdreferenz, Reentry etc.) für eine Neubegründung einer Psychopathologie und für Praktiken von Interventionen haben. Bitte lesen Sie selbst! 

Die größte Herausforderung liegt vermutlich darin, von lieb gewordenen, zumal heute besonders beliebten ideologisch und/ oder moralisch aufgeladenen Paradigmen Abschied zu nehmen, die entweder im Umkreis der Kritischen Theorie zu Hause sind oder interaktionistischen, transaktionalen Modellen, insgesamt Sozialpsychologien und Sozialisationstheorien nahe stehen. 

Auch wenn Roland Schleiffer Anschlussoptionen zu klassischen Ansätzen in der Psychiatrie bzw. Psychopathologie aufzeigt (220ff): Er hat den Mut, davon zu sprechen, dass die von ihm begonnene systemtheoretische Psychopathologie mit dem Fokus auf funktionale Äquivalente „therapeutisch neutral“ sei.  

Das wirft die außerordentlich bedeutsame Frage auf, die den Disputations-Schwerpunkt zwischen Niklas Luhmann („unpolitische Theorie“, „inhaltsleer und seelenlos“, „nur beschreibend, nicht verändernd“) und Jürgen Habermas (emanzipatorische Sozialphilosophie, politisch relevant, menschenfreundlich, marxistisch-psychoanalytisch-soziologisch) noch bis in die 1990er zumindest deren Anhänger heftig diskutieren ließ. 

Die Frage lautet im Anschluss an den ersten Schritt von Roland Schleiffer: Können wir eine Psychopathologie, können wir psychotherapeutische Interventionen denken (gar praktizieren), ohne ideologische Gewichte, ohne auf Menschenbilder, Ethosvarianten, anthropologischen Bestimmungen etc. rekurrieren zu müssen? – Es scheint möglich. 

Dr. Regina Mahlmann, www.dr-mahlmann.de

 

Dr. Regina Mahlmann