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Das Zeitalter der Erkenntnis

Autor Eric Kandel
Verlag Siedler
ISBN 978-3-88680-945-5

Wow, was ein 600-Seiten-Gewaltmarsch durch Hirnforschung, Psychologie und Malerei. Und dennoch höchst unterhaltsam und gut verständlich, alleine schon der Bilderfülle und umfassenden (typisch amerikanisch, auch für einen Ex-Wiener normal) Storytellings wegen. Für alle, die irgendwie mit Lernen zu tun haben – und/oder mit Kunst: „Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute.“ – so der Untertitel. Schon das Titelbild des Umschlags ist Programm: Der Medizin-Nobelpreisträger Eric Kandel als Leitfigur der Hirnforschung (Sie erinnern vielleicht – Meeresschnecke Aplysia?!) neben Adele Bloch-Bauer I von Gustav Klimt, einem der Protagonisten der Wiener Moderne (um 1900). Quintessenz: Psychologie hat früh (= schon in ihrer frühen Entwicklung) Erkenntnisse der Hirnforschung „vorher gesagt“ und Künstler der Wiener Moderne haben diese bereits ab der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert umgesetzt – wie im Übrigen Künstler schon vorher – intuitiv?! Das Verdienst der Hirnforschung ist es, letztlich sichtbar „bewiesen“ zu haben (und beweisen zu können), was Mensch schon vorher wusste – nämlich: unbewusst!

Ausführliche Antworten findet Leser auf Fragen wie „Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir Kunst betrachten? Welche Erinnerungen und Emotionen werden dabei ausgelöst? Wie entstehen Empathie oder Kreativität?“ Emotion – Imitation – Empathie: Diese „Kettenreaktion“ stellt Kandel anhand einerseits Herleitung unserer Gehirnaktivitäten dar – andererseits durch die Analyse von und den Vergleich mit diversen Kunstwerken von Klimt, Schiele und Kokoschka (und weiteren Künstlern): Denn sie wollten „… mit ihrer Kunst eine äußere Einheit schaffen, bei der die Betrachter nicht sozial, sondern emotional auf einer Stufe mit den Personen im Gemälde stehen – gewissermaßen auf derselben empathischen Ebene.“ (S. 140) Spiegelneuronen spielen dabei eine wichtige Rolle – und das Klarwerden darüber, dass wir in unserem Gehirn Gesehenes neu erschaffen, mithilfe unserer Erfahrungen über unsere Umwelt – so auch „von Künstlern geschaffene Bilder“ (S. 518; Dekonstruktion u.a. S. 282, Abb. S. 283). Mimik und Gestik, also Gesicht und Hände, spielen dabei eine entscheidende Rolle, wenn wir uns die dargestellten Personen hinein versetzen – so wie in Gesprächspartner im wirklichen Leben. „Wie erwähnt, verfügt das Gehirn über sechs auf die Gesichtserkennung spezialisierte separate Bereiche, die direkt mit dem präfrontalen Cortex – dem Areal für die Beurteilung von Schönheit, moralische Bewertungen und Entscheidungsfindung – und der Amygdala – der Konzertmeisterin der Gefühle – verbunden sind.“ (S. 386) Weit jenseits des klassischen Stimulus-Respons-Modells dringt Hirnforschung immer mehr zu Erkenntnissen dessen vor, was zwischen S und R in uns (= in unserem Gehirn UND Körper!) abläuft – und auch noch parallel dazu (S. 409). Und wann lernen wir eigentlich optimal? „Lernen geschieht immer dann, wenn ein tatsächliches Ergebnis vom vorhergesagten Ergebnis abweicht. Viele Verhaltensweisen unterliegen dem Einfluss von Belohnungen und erleben langfristige Veränderungen, wenn sich die tatsächlichen Belohnungen von den vorhergesagten unterscheiden. Sind tatsächliche und vorhergesagte Belohnungen identisch, bleibt das Verhalten unverändert. Physiologische Studien haben erbracht, dass dopaminerge Neuronen bei verschiedenen Formen des belohnungsbasierten Lernens aktiviert werden, … auch durch unerwartete Belohnungen und durch Fehler beim Vorhersagen …““ (S. 494) Bezogen auf Kunst lautet die Schlussfolgerung  auch (S. 512): „Die … von Dutton dargelegte … Sichtweise lautet, dass die Künste nicht bloß ein Nebenprodukt der Evolution sind, sondern vielmehr eine evolutionäre Anpassung, ein instinktives Merkmal, das uns hilft zu überlegen, da es für unser Wohlbefinden unabdingbar ist.“ Und derlei Erkenntnisse der Hirnforschung können weit über den Kunst-Aspekt hinaus interessant und relevant sein – für Ihre Präsentation, für Kommunikations-Themen wie Körpersprache und Stil, für Trainings-Settings generell: „Zu ihrer größten Verblüffung entdeckten Hubel und Wiesel, dass Neuronen in der primären Sehrinde nicht einfach auf Linien reagieren, sondern auf Linien mit einer bestimmten Orientierung – senkrecht, waagrecht oder schräg … Außerdem reagieren die Nervenzellen in der primären Sehrinde … am stärksten auf Unterbrechungen … von Hell und Dunkel.“ (S. 306) Und das Differenzieren von Sehen auf unterschiedlichen Ebenen (untere / mittlere / obere) in sehr verschiedenen Hirnregionen mag auch fürs Neuro-Marketing relevant sein: Kategorisieren können wir erst inklusive der obersten Ebene. Das hat Auswirkung auf die Art von Bild-Präsentation – was wir zwar schon „immer“ wussten, nun aber anhand von direkter Beobachtung von Hirn-Aktivitäten nachvollziehen können (S. 316ff.). (N.B. In diesem Zusammenhang zur weiteren Vertiefung interessant, von mir ebenfalls rezensiert: „Die Revolution des Sehens“ von Mark Changizi.) Ausführlich geht der Autor auf den Aspekt der menschlichen Kreativität ein und wie sie entsteht bzw. unterstützt werden kann. Last not least (S. 582): „Wir wissen heute, dass uns expressionistische Kunst unter anderem deshalb so sehr bewegt, weil wir ein bemerkenswert umfangreiches soziales Gehirn entwickelt haben … Dank dem Spiegelneuronensystem im Gehirn, dem Theory-of-Mind-System und biologischen Regulierern von Emotion und Empathie (sind) wir außerordentlich gut in der Lage, uns in das Denken und Fühlen anderer Menschen hineinzuversetzen.“ – Voila – Weiterbildung mithilfe von Kunst und Kunstobjekten? – Vor einem Jahrzehnt waren schon einmal „die Lebenswissenschaften“ ins „Rampenlicht“ gerückt: in der Mehrzahl, wohl gemerkt – ähnlich wie wir auch von „den Neurowissenschaften“ sprechen. Alles rund um „Bio“ (griech. Bios = Leben) war angesprochen – und Geisteswissenschaften fühlten sich angesprochen, auch kulturelle, anthropologische, literarische Aspekte einzubringen. Ähnlich spannt Kandel in seinem Buch den Bogen weit, letztlich dem Interdisziplinären den Steigbügel zu halten: Wer sich diese 600 Seiten gönnt, hat genau das geschafft, nämlich: Verbindungen herzustellen zwischen (hier) Malerei und ihrer Rezeption (= Beobachter) und der Beobachtung des Betrachters mithilfe medizinischer (genauer: medizintechnischer) Hilfsmittel – mit der Brücke Psychologie.

Hanspeter Reiter