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Der Grenzwald

Autor Heimito von Doderer
Verlag C.H.Beck
ISBN 978-3-406-39893-3

Beide frühen Romane, Die Erleuchteten Fenster und Ein Umweg, umkreisen ein literarisches Lebensthema des Autors: Menschwerdung. Heute würde man von Personbildung oder Persönlichkeitsentwicklung sprechen. Das leitende Motiv ist – wie bei Heimito von Doderer typisch – inhaltlich völlig unterschiedlich entworfen. Im erst genannten Roman steht der pensionierte und verwitwete Amtsrat Julius Zihal im Mittelpunkt. Mit einem voyeueristschem Eifer – er beobachtet durch die erleuchteten Fenster seine insbesondere weiblichen Nachbarn – und unter Befolgung der seine Lebensäußerungen organisierenden, zwar mit der Pensionierung eigentlich überflüssigen, doch dank Internalisierung unausweichlichen „Dienstpragmatik“, also der Muster, Regeln, Prozeduren, die er als Amtsrat verinnerlicht und routinisiert hat (er beobachtet fast phlegmatisch und führt Buch über Zeit, Ort, Geschehen), und die ihm, so wird deutlich, das Menschwerden verunmöglichte, gelingt ihm genau dies: die Menschwerdung. Dies passiert allerdings durch ein Missgeschick, das ihn ans Bett fesselt – und der es seiner unbewussten? geheimen? jedenfalls vom Leser ahnungsvoll erfassten Verliebtheit in eine gereifte Dame mit weiblichen Formen und souveränem Auftritt ermöglicht, sich ihr gegenüber zu öffnen. Ein glückliches Ende, gerade für Zihal. Seine Menschwerdung bedeutet, der Dienstpragmatik und damit Alltagszwangsjacke zu entkommen und die Sehnsucht danach, (wieder) Teil eines Paares zu sein, zu verwirklichen.
In dem zweiten Roman wechselt der Autor die Epoche und führt den Leser in das, was als österreichischer Barock bezeichnet wird. Hier oszilliert das Geschehen um eine Frau, zu der zwei Männer unterschiedlichster Herkunft unterschiedlich motivierte Beziehungen empfinden bzw. haben. Der eine gehört dem Adel an, der andere ist ein dank der Fürsprache der Frau anlässlich seiner Hinrichtung ehemaliger Soldat. Und beide suchen dasjenige in ihrem Leben, das ihnen – mit Heimito von Doderer gesprochen – zum Menschwerden oder Menschsein fehlt. Der vor dem Tode gerettete Ehemann sucht innere und handelnde Freiheit, die er sich aus verschiedenen Gründen versagt; der andere sucht inneren Frieden durch Verdrängen – als Kompromiss für die Sehnsucht nach einer gelebten Liebe. Beide Männer finden den Tod und müssen zur heilenden Erkenntnis jeder einen Umweg gehen.
„Der Grenzwald“ ist Fragment und fordert selbst Doderer-Lesern Geduld und Mitdenken ab. Der Roman war als zweiter von vier „Sätzen“ einer Symphonie, „Roman No 7“, zusammen mit dem ersten Satz: „Die Wasserfälle von Slunj“ (für Doderer Verhältnisse sehr flüssig zu lesen), geplant, mit Betonung nicht auf den Inhalten, sondern auf der Form. Der „Grenzwald“ ordnet das Geschehen vorzugsweise zwei Personen (Zienhammer, Rottenstein). Ersterer ist ehemaliger Oberstleutnant und kommt dem Leser vor allem als Figur vor dem Hintergrund von Kriegserfahrungen entgegen; Rottenstein ist Privatsekretär, und beide begleitet der Leser, flankiert von weiteren Personen wie Dr. Alfons mit seinem besonderen „Schicksal“, von erst allmählich aufgedeckten Geheimnissen noch aus dem Krieg, die in die 1920er-Jahre Wirklichkeit hineinragen, von Liebeleien, von Denunziationen und deren Auswirkungen – zum „Reifungspunkt“, der völlig unterschiedlich sich anbahnt und ausschaut.
Wer von Heimito von Doderer andere Romane gelesen hat, merkt dem Grenzwald das Fragmentarische an, vor allem stilistisch. Das Nachwort ist unbedingt zu lesen, nützlicherweise vor der Lektüre des Romanfragments.
Als Einstieg in die Lektüre von Doderer empfiehlt sich „Der Grenzwald“ keinesfalls. Jene, die eher harmonische, fast plätschernde Literatur bevorzugen, seien im Rahmen der vier Sätze „Die Wasserfälle von Slunji“ empfohlen und außerhalb des Romans No 7 „Der Mord, den jeder begeht“. Achtung: Auch scheinbar einfach und flüssig zu lesende Romane von Heimito von Doderer sind der wiederholten Lektüre wert; denn alle Werke haben mehrere Ebenen und vielfältige, beim erstmaligen Lesen übersehene Details.
Die berühmtesten, nobelpreisträchtigen Werke „Die Strudlhofstiege“ und „Die Dämonen“ seien all jenen auf den Tisch gelegt, die Freude an ausladender Phantasie und Sprache, an originellen Gedanken, Phrasen und Metaphern, an spitzen Humor und langen, langen Sätzen haben, die einen fast unbemerkt von dem eigentlichen Thema aus fortführen, sanft an die Hand genommen und gleichsam schwebend vom Hauptweg fort auf Pfade, die sich im Dschungel von Personen, Geschehnissen, Ein- und Zufällen verlieren oder wieder zur Haupthandlung finden. Rhizom statt Baumwurzel.
Das Buch „Kontinent Doderer“ von Klaus Nüchtern, ebenfalls C.H. Beck-Verlag, ist eine ungemein bereichernde Lektüre, die zu erwähnen in keiner meiner Doderer-Rezensionen fehlen soll.
Dr. Regina Mahlmann, www.dr-mahlmann.de

Regina Mahlmann