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Der jüdische Witz

Autor Louis Kaplan
Verlag Die Andere Bibliothek
ISBN ‎ 978-3-847-70439-3

Ein weites Feld
Der amerikanische Professor für Geschichte, Photographie und Medientheorie an der Universität Toronto mag jenen bereits bekannt sein, die sich mit Photographie, Satire, Humor befassen. In der vorliegenden Studie widmet er sich dem jüdischen Witz und seine „Entwendung“ in Form des Judenwitzes. Dies in einer historischen Betrachtung, die im Zeitraum vom 19. Jahrhundert bis heute anhand exemplarischer Literaten und deren Werke, gegenwärtiger identitätspolitischer und künstlerischer (speziell: satirischer) Kunstäußerungen, politischer Einbettung und Entscheider (Kulturpolitik) als auch soziologischer und psychoanalytischer und nicht zuletzt medienhistorischer Meilensteine einbezieht. Nach Vorwort und Einleitung stellt Louis Kaplan in den Kapiteln (mit Schwerpunkt der 1920er, 1930er Jahre sowie Nazizeit bis Mitte der 1940er) jeweils exemplarisch einen Autor ins Blickfeld. Von ihm aus und seinem politischen, sozialen, literarischen Umfeld, seiner Einbettung in Zeitgeist, einschließlich der Beziehungen zu und Korrespondenzen mit anderen Zeitzeugen, analysiert er ausführlich die unterschiedlichen Quellen des Konflikthaften sowohl einer jüdischen Identität als auch deren Ausdrucksweisen in Humor und Witz.
Quo vadis „jüdischer Witz“?
Im Zentrum stehen eingebaute Ambivalenzen bzw. die Dialektik des jüdischen Witzes und damit „der schmale Grat zwischen jüdischer Selbstironie und Antisemitismus“ (Louis Kaplan): von Juden für Juden sowie von Juden und Nicht-Juden über Juden und somit mehrere Betrachtungsperspektiven – mit dem Fluchtpunkt der Verwandlung: vom jüdischen Witz zum Judenwitz und also seiner Instrumentalisierung in antisemitischer Absicht. Beleuchtet werden insbesondere diese Fragen: Welche Funktion hat der jüdische Witz, der von Juden in einer Epoche erfunden wird, die als bedrohlich gilt? Welche Anreize für und Ausdrucksweisen von Antisemitismus sind ihm inhärent, so dass eine innerjüdische Debatte um den jüdischen Witz und seine Nähe zum Judenwitz entbrannte (bis heute geführt wird) – und die „Entwendung“ quasi als logische Folgerung erscheint, von Juden wie von Nichtjuden bis hin zum Ge- bzw. Missbrauch durch Satire, die immer wieder im Verdacht steht, antisemitische Figuren zu bedienen? Unter welchen ideologischen zeitgenössischen, politisch-kulturellen Bedingungen, zudem psychologisch interpretierten Bedürfnissen richtet sich das Selbstironische, das als Charakteristikum des jüdischen Witzes und auch jüdischer Karikaturen gilt, gegen Juden selbst bzw. wird gegen sie in Anschlag gebracht – wie es brachial nicht erst während der Hitler-Zeit geschah – und etwa neuerdings, im Zuge des Aufflammens des Nahostkonflikts auch in Deutschland – wieder geschieht?
Tiefe Einblicke
Louis Kaplan zeigt, dass dieses Phänomen der Ambivalenz, der eingebauten Dialektik und damit verflochtenen Gefahr und Praktik der Instrumentalisierung für antisemitische Zwecke (auch in Form von Satire, Karikaturen, Kabarett), bereits im frühen 19. Jahrhundert thematisch und wirkmächtig war, und analysiert diesen Sachverhalt tiefgründig und exemplarisch, sowohl in einschlägigen Witzbüchern, Büchern über den jüdischen Witz und politische Interventionsversuche zum Schutz der Juden Mitte der 1920er Jahre(Unterkapitel: „Als Alfred Wiener und dem Centralverein das Lachen verging“) sowie anhand von Satire und Kabarett, etwa anhand der Kontroverse im Rahmen von Kabarettaufführungen Mitte der 1920er Jahre. Die mehrperspektivische Untersuchung umfasst Schlüsselwerke und -debatten im Zeitraum der Weimarer und österreichischen Republik (1918-1933), des Nationalsozialismus (1933-1945) die Nachkriegszeit bis Mitte der 1960er Jahre. Der Epilog spannt den Bogen zur Gegenwart und skizziert aktuelle Erscheinungen der Nutzung jüdischen Witzes und Humors in Witzen, Satire, Kabarett sowie in medial verbreiteten (Propaganda-) Texten – allesamt als Verformung, Entwendung von Selbstironie, psychologistisch als Selbsthass gedeutet und darauf fußend die Richtigkeit der eigenen, antijüdischen Haltung legitimierend, auch als verschiedene Weisen vermeintlich künstlerisch verkleideter Instrumentalisierung – allesamt entweder auf dem „schmalen Grat“ zum Antisemitismus (Louis Kaplan) oder bereits als Überschreitung, nämlich als Vergiftung mit antisemitischen Motiven (sowohl aus dem sogenannten rechten Spektrum in Deutschland und den USA als auch aus dem linksideologischen).
Vieles zum Nachdenken …
In diesen Erläuterungen wird für den Leser die Wandlung vom jüdischen Witz zum Judenwitz, die Zweckentfremdung von Selbstironie und – psychologisch betrachtet und spätestens seit Sigmund Freud – von Trauerarbeit und seelischer Entlastung durch Lachen durch Überzeichnung (vermeintlicher) Eigenheiten konkret nachvollziehbar, ebenso wie die Einbettung in die Frage nach der „Weisheit“, also dem „wirklichen“ oder „authentischen“ Aussagegehalt des jüdischen Witzes als herausgehobene Gattung und Kunstform. (In dem Zwischenkapitel „Die antisemitischen Wurzeln der Karikaturen und Witze über Juden“ liest man von Anfangsbedingungen.) Bis heute also ist die Ambivalenz nicht nur nicht aufgehoben, sondern wird noch immer dazu genutzt, diese Kunstform gegen ihre Urheber zu wenden und damit ab- und ausgrenzende bis hin zu rassistischen Motiven bedienende Intentionen zu realisieren. Über Ursprünge und Entwicklungen klärt den Leser Louis Kaplan auf; Illustrationen helfen dem Leser, Eigentümliches (im wörtlichen Sinn) des jüdischen Witzes in Wort, Bild, als Satire und als kabarettistische Aufführung nachzuvollziehen und Ambivalenzen wahrzunehmen. www.dr-mahlmann.de www.gabal.de

Regina Mahlmann