Der Klavierspieler vom Gare du Nore
Autor | Gabriel Katz |
Verlag | Fischer |
ISBN | 978-3-103-97465-2 |
Der Roman, eine Adaption des gleichnamigen Films, verheißt in Titel und Klappentext eine Geschichte zur verbindenden Macht von (Klavier-) Musik und zu einer ungewöhnlichen Freundschaft.
Hast du Töne?!
Ein gefällig geschriebener und flott lesbarer Roman, dessen naheliegende Fragen sich weniger an die Sinnhaftigkeit von Verwicklungen richten, die man aus Komödien oder Tragödien kennt. Vielmehr richten sie sich an das vordergründige Hauptakteure: den Klavierspieler namens Mathieu und den Direktor namens Pierre. Geht es um den Klavierspieler, wie der Titel bahnt? Um eine Entwicklungsgeschichte mit glücklicher Fügung? Oder darum, dass der Direktor, der sein berufliches Schicksal mit der Talententfaltung von Mathieu verknüpft, von diesem gerettet wird? Oder um beide und um beides? Bei beiden Personen sind Erinnerungen zentral, und beide scheinen eingepfercht in Gefühlen und milieubedingten Annahmen. Klar wird, dass beide einander brauchen, um bestimmte Entwicklungsschritte gehen zu können, um im einen Fall die Superbegabung verwirklichen zu können, und im anderen aus einem Stillstand in der persönlichen Befindlichkeit und in der Ehe gleichsam auszusteigen, hervorgerufen durch den Tod des Sohnes.
Das ist die Geschichte…
Der Klavierspieler, der junge Mathieu Malinski, wird vom Direktor eines Konservatoriums, Pierre Geithner, in Paris zufällig als genialisches Talent mit absolutem Gehör entdeckt, als dieser dessen Bachspiel auf einem Klavier hört, das am Gare du Nord steht. Nach einigen Hindernissen motiviert der Direktor das Talent, sich fördern zu lassen – maßgeblich realisiert von der strengen Comtesse, deren Zuwendung sich von Skepsis zur Überzeugung, den richtigen Menschen zu fördern, wandelt. Ihre Kompetenz und Disziplinierung sind nötig; denn Mathieu wird auserkoren, das Konservatorium an einem äußerst wichtigen und renommierten Wettbewerb zu vertreten, dessen Ausgang auch für Pierre einschneidende Folgen zeitigt. Die Milieudifferenz zwischen Mathieu (samt Familie und Kumpels), Konservatorium, Klavierlehrerin (die Comtesse) und Freundin (aus noblen Kreisen) wird vom Autor derartig drastisch hervorgehoben, dass man sich fragt, ob es ihm auch um sozialkritische Aspekte geht, etwa um eine Chancengleichheit für Begabte, den Verweis, dass auch Personen, die kriminell sind und sich eines restringierten Sprachcodes bedienen, intelligent, empathisch und vor allem talentiert und damit entwicklungswürdig sein können – und attraktiv, wie die Liebelei zwischen Mathieu und Anna zeigen mag.
Milieu-Unterschiede!
Inszenatorisch und sprachlich drücken sich die Milieudifferenzen aus, indem Mathieu, insbesondere in Dialogen, sich einer bemerkenswerten und etwas eintönigen Vulgärsprache bedient. Die Figur überzeugt nicht recht, weil diese vulgäre Expressivität in der Schilderung seiner Gedanken drastisch abnimmt und er zu klug für die Eintönigkeit ist. Einige Schilderungen der Figur setzen den Leser allerdings auf die psychologische bzw. psychologisierende Spur, die gesprochene Sprache von Mathieu möge im Kontext seiner Absetzungs-, Behauptungsbemühungen, seinem Selbstwertgefühl dienen und damit seiner Entwicklung hin zu einem Mitglied der elitären Musikergemeinde. Gabriel Katz gewährt Einblicke in die Historie, die Mathieu zu einem Klavierspieler gemacht hat, Erinnerungen, kursiv geschrieben. Die Figur des Direktors wird etwas differenzierter gezeichnet, wenngleich auch hier in einfachen Strichen. Doch in manchen Passagen, in denen das Erleben von Klaviermusik im Vordergrund steht, insbesondere, wenn Mathieu all seine spätpubertären Allüren unterlässt und am Klavier sitzt und spielt, gelingt es dem Autor, den Leser anzurühren und ein Gefühl für das zu erahnen, was der Titel so verheißungsvoll in Aussicht stellt: die forttragende und Grenzen überwindende Wirkung von Musik. Ein sympathischer Roman, der manche Bahnfahrt oder Flugreise kurzweilig macht. HPR www.dr-mahlmann.de www.gabal.de