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Der Traum vom Jahre Null

Autor Christian Adam
Verlag Galiani
ISBN 978-3-869-71122-5

„Autoren, Bestseller, Leser: Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945“: Bereits während und erst recht nach der Lektüre dieses Buches reibt man sich die Augen: Klar wird, welche Kontinuitäten in Literatur (Belletristrik, Landser, Sachbuch), Verlagen und Personen von den 1920er bis in die 1950er, in einigen Fällen sogar bis in die 1980er Jahre vorherrschten, nicht zuletzt gestützt von offiziellen Institutionen sowohl der BRD als auch der DDR, und dies bereits während der Besatzungsjahre durch die Siegermächte. Nicht nur Inhalte (Helden, Opfermythen, Dramaturgie), sondern auch sprachliche Eigentümlichkeiten überdauern Nationalsozialismus und Entnazifizierungsbestrebungen durch Personen. Anhand von Büchern mit besonders hohen Auflagen, Verbreitung und von erzieherisch wirken wollenden Behörden in BRD und DDR zeigt der Autor, Leiter des Fachbereichs Publikationen im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam sowie Autor der Studie „Lesen unter Hitler“ (2010) eindrücklich, welche Literaturgattungen aus welchen naheliegenden Gründen besonders in breiten Bevölkerungskreisen hat reüssieren können, gerade nach 1945. Die Erklärungen geraten aus soziologischer Sicht zwar zuweilen etwas dünn. Das schadet der Gesamtsicht allerdings nicht, deren vordergründige Intention darin liegt, deutlich zu machen, dass und wo und wie (durch welche Strukturen, politischen Absichten und personellen Verflechtungen) die Kontinuität hat überhaupt stattfinden können.

Ein Jahr Null, also einen grundlegenden Neuanfang, hat es auch in der Bundesrepublik Deutschland nicht gegeben, nicht einmal durch die Gruppe 47, und Autoren wie Wolfgang Koeppen, eine der wenigen Ausnahmeerscheinungen, die die Brutalität des Krieges und die Frage nach Schuld schonungslos literarisch verarbeitet haben, konnten in den „früheren“ Nachkriegsjahren dieses Defizit (noch) nicht breitenwirksam beheben.

Die Überschriften der Kapitel geben einen informativen Überblick: Die „Neuordnung der Bücherwelt“ behandelt die „Literaturpolitik und den Literaturmarkt nach 1945“; die „Diktatur des guten Buches“ widmet sich den ersten Auflagenerfolgen in den von den Siegermächten besetzten Zonen, einschließlich der Rolle des Taschenbuchs. „Erzählen von Krieg und Lager“ richtet das Augenmerk auf Autoren, die breitenwirksam über authentische und fiktive Erlebnisse schreiben, während das übernächste Kapitel sich dem „Schweigen“ über „Krieg und Lager“ zuwendet. „Die „Rückkehr“ der Autoren“ behandelt „Positionsbestimmungen zwischen Emigranten und den im Land Gebliebenen“, gefolgt von Ausführungen zum „Literaturtausch“ zwischen DDR und BRD und dem „Arsenal des Kalten Krieges“, der Schilderung von „Fakten, die verschleiern“ und „Kleine Fluchten“ dank „gefällige® Weltunterhaltungsliteratur. In dem Kapitel „Literarischer Morgenthau-Plan“ überrascht Christian Adams mit Belegen zu – aus heutiger Sicht – Erstaunen bis Entsetzen hervorrufenden Ausführungen zu Literaturgeschichtsschreibung, Schulbüchern und Lektoren und beleuchtet in dem Schlusskapitel „Erinnerungen aus der Grauzone oder Zaghafter Blick nach vorn“ die Leistungen von bekannten und bewunderten Autoren wie Hans Werner Richter, Heinrich Böll, Günter Grass, Wolfgang Koeppen und Alfred Andersch. Das Buch schließt mit einem ausführlichen Anhang, der auch auf die Auswahl der Bücher eingeht und ein ausführliches Literaturverzeichnis aufweist.

Ein äußerst lesenswertes Buch, das den Leser sehr nachdenklich zurücklässt und auch die gegenwärtige, medial um das Digitale erweiterte, Literaturlandschaft mit verändertem Blick schauen lässt. – Wohl auch eine Art Aufarbeiten des Verlags Kiepenheuer & Witsch, zu dem der heraus gebende Galiani Verlag gehört – mehrfach erwähnt im Verlaufe des Buches. HPR

Hanspeter Reiter