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Die Illusion der Gewissheit

Autor Siri Hustvedt
Verlag Rowohlt
ISBN 978-3-498-03038-4

„In diesem Essay geht Siri Hustvedt der Grundfrage menschlicher Existenz nach: Wie ist die Beziehung zwischen Geist und Körper?“ – so titelt der Umschlag-Text auf der Rückseite. Geht es also um das Thema „entscheiden wir bewusst, obwohl Gehirn-Impulse als Reaktion auf etwas schon Milli-Sekunden vorm Bewusstwerden-Können geschehen“? Doch die Autorin fasst das Thema viel weiter…

Bewusstsein?
Wo genau ist „Geist“ denn verortet? Darüber machen Menschen sich Gedanken (!), seitdem sie – hmm, nun: denken können. Belegt für die „alten Griechen“ und andere Philosophen, mit unterschiedlichsten Theorien, wo Geist (& Seele!) denn sitzen mögen – das Herz war ein gängiger Verdächtiger. Die Autoren stellt andere, konkretere Fragen: „Was ist der Verstand? Wie unterscheidet er sich vom Körper? Kann der Verstand auf Neuronen im Gehirn reduziert werden oder nicht? In ihrem Essay nimmt sich Siri Hustvedt das uralte, noch immer nicht gelöste Geist-[Gehirn-] Körper-Problem vor und macht deutlich, wie sehr die unterschiedlichen Antworten auf diese Frage tiefgreifende Bedeutung für unser Verständnis von uns selbst haben.“ Kurze Kapitel beleuchten Schlag auf Schlag einzelne Themen, die letztlich doch ein großes Ganzes bilden. Dabei diskutiert sie vielerlei Ergebnisse, stellt manches wieder infrage, etwa Nature-Nurture, Evolutionspsychologie oder Geist als Computer: „Die Dynamik des neuroendokrinen Systems beim Menschen wird im Grunde durch keine der Studien angemessen erfasst.“ (S. 122) Was mich z.B. als Herausgeber des „Handbuch Hirnforschung und Weiterbildung“ durchaus stutzig macht: Waren ich und meine AutorInnen zu fokussiert, was Lehren & Lernen angeht? Was ist mit neuronalen Aktivitäten bei Sprache und binärer Logik – trifft Semiotik den Kern (S. 222f.)?

Ein weiter Blick
Anregend die vielseitig gebotenen Perspektiven: „Mit ihrem multidisziplinären Zugang zeigt Hustvedt, wie sehr ungerechtfertigte Annahmen über Körper und Geist das Denken der Neurowissenschaftler, Genetiker, Psychiater, Evolutionspsychologen [bezüglich Darwin, Dawkins und andere]und der Forscher zur Künstlichen Intelligenz verzerrt und verwirrt hat.“ Sie nimmt ihre Leser mit in die Lehre von Philosophen (etwa Descartes, Hobbes, Cavendish und Vico, siehe rund um S. 41) genauso wie von Mathematikern (etwa Whitehead) – und stellt sie in neue, andere Rahmen, Gedanken und Nachdenken anzustoßen. „In diesem gelehrsamen Essay führt Hustvedt den Leser in verschiedene körperintegrierende Theorien von Bewusstsein ein, die die aktuelle Debatte über Verstand und Körper verändern. Gleichzeitig betont sie, dass keine Idee unantastbar ist. «Zweifel», schreibt sie, «ist nicht nur ein Ausdruck von Intelligenz; es ist eine Notwendigkeit.»“ Erst Zweifel führen zu Antworten – und „…ist nicht nur eine Tugend der Intelligenz, er ist ihre notwendige Voraussetzung.“ (S. 384). Denn „Imagination und Phantasie wurden durch das viele Gerede von Kreativität und Genie mystifiziert, als wären sie keine universellen Eigenschaften des Menschen, sondern nur wenigen Auserwählten vorbehalten.“ (S. 331) Was uns bestärken sollte, als Weiterbildner jeglicher Couleur daran zu arbeiten, derlei (vorhandene!) Fähigkeiten wieder hervor zu locken, bei den von uns begleiteten Menschen  … HPR

Hanspeter Reiter