Die Kunst der kontiuierlichen Selbsterneuerung
Autor | Hans-Joachim Gergs |
Verlag | Beltz |
ISBN | 978-3-407-36582-8 |
Hans-Joachim Gergs, Dozent an der TU München und Universität Heidelberg, ist Senior Consultant und Organisationsentwickler mit dem Schwerpunkt Veränderungsmanagement bei der AUDI AG und beabsichtigt, mit seinen Ausführungen Führungskräfte zu ermutigen, permanente Veränderung – gefasst als „kontinuierliche Selbsterneuerung“ – unternehmenskulturell und –praktisch zu verankern.
Das Modell der acht Prinzipien
Der Hauptgrund für seine Motivation, ein Modell oder eine „Heuristik“ oder „Denkprinzipien“ (der Autor kann sich nicht recht entscheiden, was er möchte, z.B. S. 12-14) der acht Prinzipien, die dazu notwendig (wenn auch, nach Auffassung der Rezensentin, nicht hinreichend) sind, liegt, abstrakt formuliert, darin, dass sich die Veränderung selbst verändere. Diese Selbstbezüglichkeit oder Wirklichkeit zweiter Ordnung verdankt sich der Beobachtung der Beobachtung. Sie verweist darauf, dass die (in den ersten Kapiteln referierte) digital getriebene Veränderungslogik samt ihrer Geschwindigkeit und Reichweite eine neue Qualität von Wandel in und von Unternehmen und allen Bereichen gesellschaftlichen Lebens, Anpassung und Zukunft sicherndes/erschließendes Verhalten, erzeugt.
Diskussion Change Management
Aus diesem Grund sei es nötig, die „alten“ Change Management-Empfehlungen ad acta zu legen, um sich auf die neue Qualität einzustellen – und exakt dazu dienen die acht Prinzipien. Anmerkung: Die Grafik auf Seite zeigt nur sieben der acht Prinzipien; das achte Prinzip wird aber besprochen, also einfach hinzufügen.) Diese Prinzipien, die das Wandeln auf Dauer stellen sollen (so das denn klug und praktisch möglich ist, wendet die Rezensentin ein) lauten: „Selbstreflexion stärken“, „Kommunikation und Vernetzung intensivieren“, „Bezweifeln und Vergessen“, „Erkunden“, „Experimentieren“, „Fehler- und Feedbackkultur etablieren“ und „Ausdauer und Denken in Kreisen.“
Selbstredend ist es erkenntnistheoretisch und handlungspraktisch weder möglich noch nötig, alles Tradierte und Probate zu vergessen. Allerdings bedient sich der Autor einer holzschnittartigen Gegenüberstellung, wie sie in Beraterkreisen nicht nur aus Gründen der Erkenntnisgewinnung beliebt ist – und gewinnt dadurch an Überredungskraft. Die Gegenüberstellung von Change Konzepten der 1970er bis heute zeichnet die traditionellen Konzepte als solche, die sich ausschließlich stabiler Umfelder verdanken und schon deshalb nicht mehr verwertbar seien, während die heutigen der VUCA-Welt entsprechen. Dass dies nicht haltbar ist, zeigt Managementliteratur seit den späten 1960er Jahren. Und sie zeigt auch, dass die acht Prinzipien seit jener Zeit thematisch sind, Führenden empfohlen werden; der Boom setzt bereits in den 1980er Jahren ein, im Tandem mit Unternehmenskultur und -ethik.
Die grobschlächtige Pointierung bräuchte es gar nicht. Denn Hans-Joachim Gergs legt nachvollziehbar dar, welche Gründe es nahelegen, von einer anderen Qualität von Veränderung und Change Management zu sprechen und zumindest den Bias, den Schwerpunkt von Veränderungsnotwendigkeit und –handeln in Unternehmen zu verlagern und neben partizipatorischen und selbstreflektierenden Aspekten das (ebenfalls nicht neue) Arbeiten „am“ System, statt „im“ System dringend anzuraten. Inwiefern es da des Bezugs auf Dopplers Terminologie bedarf, von der heldenhaften (auch: heroisch genannten) zur „weisen“ (auch postheroisch genannten) Führung zu gelangen, mag man diskutieren. Heikel wird es allerdings, wenn behauptet wird, die weise Führungskraft sei des Heroischen abhold und sei deshalb eher zum Vorbild für die VUCA-Welt geeignet als das (offen) Heroische. Den Verdacht, Bezüge zu verschiedenen Ansätzen rein instrumentell oder nur nominal zu nutzen, anstatt sie gedanklich zu durchdringen, mag den acht Prinzipien im ersten Augenblick zu Gute kommen und kann – im Anschluss vertieften Nachdenkens – immerhin in erntereiche Kontroversen münden.
Diskussionsbedarf
Es gibt viel Debattenwürdiges in diesem Buch, vorzugsweise deshalb, weil der Autor sich unterschiedlicher, nicht immer miteinander verbundener Denkperspektiven bedient. Außer den genannten sind einige weitere prominent. Neben einer seichten system(theoret)ischen Mentalklammer dominieren Analogien zu Kunst (mit einem idealisierten Typus von Künstler und Kunsterzeugung) und zur biologischen Evolution. Populär ist inzwischen der Design Thinking Ansatz als Methode, schnell und zielgruppen- bzw. nachfragegerechte Produkte und Dienstleistungen zu schaffen. Analogien zur biologischen Evolution kommen vor allem dort, wo es um die Unausweichlichkeit und grundsätzlich mit Freude besetzte Veränderlichkeit, Kreativität und Innovativität geht. Die Analogien sind intuitiv eingängig, sollten indes an der einen und anderen Stelle durchaus befragt werden (z.B. Behauptung von Irreversibilität, Verständnis von Evolution als Fortschreiten, Engführung von Adaptabilität auf Gegenwart, um andernorts sie als Kategorie für produktive Selbsterneuerungsmodi im Verbund mit inkrementalem Vorgehen zu nehmen).
Bezüge
Auch Bezüge auf Theorie und Praxis der „Fünften Disziplin“ von Peter Senge und das integrative Verständnis von HRO (High Reliability Organisations)von Karl Weick und Kathleen Sutcliffe finden sich. Beide Ansätze gehören nach Auffassung der Rezensentin zu jenen, die theoretisch wie empirisch gut beforscht sind und sehr viel Potenzial in sich tragen, die „Kunst der Selbsterneuerung“ wissenschaftlich (Psychologie, Soziologie, Verhaltenswissenschaften) zu grundieren und praktisch zu gestalten. Umso größer das Bedauern, dass der Autor diese Schwergewichte nur beiläufig aufnimmt, um das eine oder andere der acht Prinzipien zu legitimieren.
Auf der Empfehlungsebene bietet der Autor dem Leser Verschiedenes an: verbreitete Methoden wie Design Thinking oder AI (Appreciative Inquiry); in grauen Kästchen abgesetzte Anekdoten, Geschichten und Beispiele aus anderen Unternehmen (von denen zahlreiche vielen Lesern vermutlich vertraut sind), von denen sich auch zahlreiche im Text befinden. Am Schluss jedes Kapitels offeriert der Autor den Lesern sowohl einen oder zwei (sehr einfach gehaltene) Fragebögen an zur Selbsteinschätzung (individuell, organisational), eine oder zwei Übungenm sowie Hinweise zu Websites und Videos (zusätzlich zum Literaturverzeichnis).
Aktion
Sollte „Kunst“ der Selbsterneuerung eine herausragende, besondere Leistungsfertigkeit (Technik) sein, gleich der „Kür“? Dann stellt sich die Frage nach dem nötigen Pflichtprogramm. Sollte es nur ein Synonym für „Praxis“ sein, kann man vermutlich auch „Selbsterneuerung“ (philosophisch und psychologisch hochbrisante Frage) nur mit „Veränderung“ übersetzen. In diesem Fall bliebe eine Art Anleitung für Veränderung von Unternehmen, die an KVP erinnert, die „alte“ Programmatik kontinuierlicher Verbesserung aus Japan. Diese allerdings hat das Optimieren im Visier hat, während Hans-Joachim Gergs das Gestalten von Zukünftigem und Unvorhersehbarem im Sinn von Peter Kruses „next practice“ meint und zu mehr intuitiver statt analytischer, zu mehr optionaler statt planerischer Herangehensweise mahnt und der traditionellen Planungslogik die der Iteration, des Loops, der Rekursion mit offenem Ausgang und hin auf eine Vision das Wort redet.
Dr. Regina Mahlmann, www.dr-mahlmann.de