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Die Lüge der digitalen Bildung

Autor Lembke / Leipner
Verlag Redline
ISBN 978-3-8688-1568-9

Gerald Lembke, Professor Digitale Medien, Medienmanagement und Kommunikation an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Mannheim und Präsident des Bundesverbandes für Medien und Marketing, sowie Ingo Leipner, Wirtschaftsjournalist und Dozent am genannten Studiengang für Journalistisches Schreiben geben in zwar leicht lesbarer, gleichzeitig dringlicher Weise ihrer Sorge darüber Ausdruck, dass Kinder zu früh mit digitalen und elektronischen Medien konfrontiert werden.

Die Wertung „zu früh“ orientiert sich an entwicklungspsychologischen und neurobiologischen Erkenntnissen. Gewährsmann für entwicklungspsychologische Argumente gegen eine Frühsozialisation mit oder durch elektronische/n Medien ist Jean Piaget, dessen Modell der kognitiven und kognitiv-moralischen Entwicklung erweitert wird durch neuere Erkenntnisse. Die neurobiologische Referenz repräsentiert der Gastbeitrag der Neurobiologin und ehemaligen Leiterin des Bereichs Neuroanatonomie/Humanbiologie an der Biologischen Fakultät der Universität Bielefeld, Professor Gertraud Teuchert-Noodt i.R..

Gleich an dieser Stelle der Verwunderung Ausdruck darüber verliehen, dass in der Thematik renommierte Forscher wie Gerhard Roth und Manfred Spitzer nicht einmal im Literaturverzeichnis auftauchen, und das, obgleich sie sich in einigen fachlichen Publikationen zum Thema Lernen aus interdisziplinärer Sicht (besonders entwicklungspsychologischer, neurowissenschaftlicher mit Hinweisen für pädagogische Didaktik ) beschäftigt haben. Eine tiefer gehende oder breitete Beschäftigung mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und Überlegungen im semantischen Feld von Lernen hätte den Ausführungen mehr Gewicht verliehen. Dies auch dadurch, dass gewisse Thesen und Konklusionen im Gastbeitrag durchaus in der Gemeinde der Neurowissenschaftler kontrovers diskutiert werden. Ähnliches gilt für die Abwesenheit der derzeitigen lerntheoretischen Debatte um die (Varianten) der Cognitive Load Theorie und der Theorie des multimedialen Lernens (z.B. im Bereich Unterrichtsforschung angewandt von Wellenreuther). Von diesem Hinweis abgesehen, ähnelt die Argumentation des Autorenpaars, wenn auch in deutlich weniger polemischer Weise der Polemik von Manfred Spitzer in „Digitale Demenz“. Auch die Infragestellung des Kompetenz-Begriffes, der neuerdings selbst im Feuilleton prominenten Platz einnimmt, bleibt blass (z.B. Murgerauer, Liessmann).

 

Die Autoren betonen an diversen Stellen, keine „Maschinenstürmer“ zu sein. Sie plädieren nicht für ein Leben ohne Digitale Medien, sondern treten vehement dafür ein, sich beim privaten und schulischen Einsatz an entwicklungspsychologischen und neurobiologischen Fakten und folglich an dem zu orientieren, was das Gehirn von Kleinst- und Kleinkindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen kognitiv leisten kann – und welcher Voraussetzungen es bedarf, um die hehren Ziele von insbesondere Bundes- und Landesbildungsministerien in Bezug auf den mündigen Umgang mit diesen allgegenwärtigen Medien verwirklichen zu können.

Das Fazit: Bis zum Alter von etwa 12 bis 14 Jahren sollten keine digitalen Medien eingesetzt werden. Erst dann scheint das Gehirn von jungen Menschen (zumindest in einer modernen Gesellschaft) kognitiv und psychisch reif genug, um ein Fundament zu haben, das ihn befähigt, komplexere Anforderungen an Aufmerksamkeitslenkung, Impuls- oder Inhibitionskontrolle, Kritikfähigkeit (Analyse, Synthese, Abwägen, Bewerten), Volition und Durchhaltevermögen/ Anstrengungsphasen beim Lernen zu erfüllen.

Insbesondere digitale Medien als Sozialisationskrücken oder gar Stellvertreter für echte Interaktion anzuwenden, wie es vermehrt bei Babys und Kleinstkindern geschieht, erweist sich für die psychisch-geistige Entwicklung als besonders heikel, wenn nicht langfristig gefährlich. Denn neurowissenschaftliche und psychologische Erkenntnisse aus der Kleinkind-, insbesondere der Bindungsforschung legen nahe, dass der (weitgehende) Verzicht auf physisch-sensorische Kommunikation und Interaktion behindern die Ausgestaltung senso-motorischer Schaltkreise (Kleinhirn und Stirnhirnbereiche) und damit die Entfaltung assoziativer Felder. Es ist lange bekannt, dass etwa Sprache auch außerhalb der Sprachzentren (Broca-, Wernike-Areal) benötigt, vor allem senso-motorische Bereiche, also solche der Bewegung insbesondere der Feinmotorik, wie auch des Sehens und Hörens. Dass die Fähigkeit, Anteil an anderen Menschen zu nehmen, ihre Perspektive einzunehmen, kurz empathisch zu sein, unterentwickelt bleibt, wenn junge Menschen vorzugsweise durch elektronische Angebote heranwachsen, haben inzwischen einige Studien gezeigt, von denen die wohl bekannteste im Buch erwähnt wird.

 

Bei allem Engagement, den Leser überzeugen zu wollen von der Dringlichkeit des Anliegens und von der Notwendigkeit digitaler Abstinenz bis zum Alter von 12 bis 14 Jahren (Beginn der Ausbildung höherer kognitiver Funktionen von Urteilsfähigkeit, Moralität, Reflexivität, deren Ende die einen um 20 Jahre, andere um 30 Jahre ansetzen) weisen die Autoren bei den Studien und Wissenschaftlern, die sie zu Wort kommen lassen, darauf hin, dass aus festgestellten Korrelationen nicht auf Kausalbeziehungen (Kausalattribution) geschlossen werden kann. Dennoch, und das gilt trotz der gegenwärtigen Kritik an insbesondere psychologischer und neurowissenschaftlicher empirischer Forschung, mehren sich Indizien dafür, dass eine digitale Frühsozialisation, verbunden mit einer Vernachlässigung echter Beziehungen und körperlicher Aktivität, die Entwicklung von emotionalen, sozialen, kognitiven Fertigkeiten be- oder gar verhindert, die sich an dem intellektuellen Ideal der Aufklärung, am empathischen Ideal des Humanismus` und an der politisch-demokratischen Idee des mündigen Bürgers ausrichten.

Neben dem Ausweis der „Lüge der digitalen Bildung“ bzw. Begründung, warum Kinder das Lernen verlernen finden sich auch hier (wie ausgiebig bei Manfred Spitzer) Belege für die pädagogisch-didaktische Naivität bildungspolitisch wirksamer Akteure – von Wirtschaftsorganisationen in der IT, die mit digitalen Lern- und Unterhaltungsangeboten einen lukrativen Markt schaffen und bedienen, ganz abgesehen.

Dem leicht lesebaren und schmalen Band seien zahlreiche Leser gewünscht, die sich mit Kleinst- und Kleinkindern und Jugendlichen bis zur Pubertät in erzieherischer Absicht beschäftigen, ob professionell oder ehrenamtlich. Professionelle können das Buch als Sprungbrett nutzen, um spezielle Fragen mit weiterer Literatur zu vertiefen.

Hanspeter Reiter