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Die Selbstgerechten

Autor Sahra Wagenknecht
Verlag Campus
ISBN 978-3-593-51390-4

Das Buch von Sarah Wagenknecht, von Rezensenten oft als „Manifest“ oder „Streitschrift“ bezeichnet, hat inzwischen zahlreiche Besprechungen in print- und online-Medien erfahren, sowohl zustimmende und wohlwollend-kritische als auch ablehnende (die sich insbesondere auf inhaltliche Positionierungen beziehen, die heutzutage in den Milieus der „Lifestyle-Linken“, vermeintlichen Kosmopoliten und Mulikulturalisten (wenn auch nicht im persönlichen Umfeld, wie neueste Untersuchungen zeigen) strikt abgelehnt oder gar für nicht äußerbar erklärt werden).

Wer die Schrift der promovierten Volkswirtin als einen mit zahlreichen Belegen, evidenz- bzw. empiriebasierten Versuch (Essay) liest, erfreut sich an der gedanklichen Auseinandersetzung, die ihm keine Meinung abverlangt, sondern Wahrnehmen (Sehen, was ist), Nachdenken über Implikationen und Folgen, Argumentation. Darauf legt Sarah Wagenknecht offenkundig wert; denn die historischen, sozioökonomischen, politischen, kulturellen Beschreibungen, Herleitungen, Deutungen, Begründungen: Kontextuierungen aktueller Phänomene in unserer Gesellschaft und deren Wechselwirkungen nach innen und außen bilden das Fundament, nicht zuletzt für ihren Entwurf, wie Gemeinsinn und Gemeinwohl (eines, das die unterschiedlich Benachteiligten einschließt) zusammenzuführen sind.

Die Politikerin bietet in ihren sachkundigen Ausführungen (selten genug in Büchern von Politikern) Anknüpfungspunkte für ein kritisches Befragen von (auch: eigenen) Annahmen, Überzeugungen und deren Erdung (Prüfung an Empirie, einschließlich Alltagserfahrungen einer Mehrheit der Bevölkerung) sowie für argumentierende Kontroversen, die sich konstruktiv auf eine zu gestaltende Zukunft dieser Republik als repräsentativer Demokratie und als einem Staat richten, der Mehrheiten beachtet, gerade jene, die nicht wort- und proteststark auftreten, sondern eher schweigen – zunehmend resigniert. Das aber kann sich die Bundesrepublik Deutschland nicht leisten. Insofern sollten sich Politiker, Entscheider in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft angesprochen fühlen, dieses Buch zu lesen. Und zwar trotz des bzw. unabhängig von der politischen Grundüberzeugung, die sich mal mehr, mal weniger in Sarah Wagenknechts Ausführungen Bahn bricht, zumal die Autorin im Zeichen der Veränderung von Lebenswirklichkeiten durchaus Aspekte bzw. Antworten zulässt, die einem (von ihr wünschenswerten) traditionellem linken Grundbekenntnis entgegenstehen.

Gewiss, das Buch ist kein reines Sachbuch, kann es seiner Intention nach nicht sein. Insofern finden sich neben den sachlichen, nüchternen Ausführungen polemische Spitzen, indes stets belegt durch nachprüfbare Beispiele, die auf ihre generalisierte Bedeutung hin betrachtet werden. Besonders gilt dies für Abschnitte, die sich mit Erscheinungen eines so genannten Linksliberalismus` befassen, der weder das eine noch das andere ist. Zuspitzungen treffen neben offenkundigen „Life-Style“-Fixierungen zwangsläufig politisch-visionäre, strategische und gestalterische Defizite der Lifestyle-Linken und selbst ernannten Kosmopoliten aus weiteren Milieus komfortabel situierter „Selbstgerechter“ – immer in Bezug auf ein traditionell linkes Verständnis von Liberalität und Sozialität, auf politische Verantwortung für die Gesamtheit einer Bevölkerung (statt Fokus auf Wohlstands-Minderheiten und deren ausgeprägter Entfremdung von realen Lebensbedingungen von Mehrheiten verschiedener Gesellschaftsschichten bzw. Betroffenengruppen).

Pointieren und Sarkasmus, so scheint es, entspringen dem Entsetzen der Autorin angesichts des Versagens aktuell wirkender Linker und Linkspartei; zahlreiche Zuspitzungen erscheinen als Folge des geradezu innigen Wunsches, ein identitätspolitisch und kulturalistisch verstandenes, Realitäten leugnendes oder ignorierendes und daher missverstandenes Linkssein zu entlarven, dessen Anhänger sich primär kulturpolitisch und volkspädagogisch (und gleichzeitig fokussiert aufs eigene Milieu) betätigen und zwar im Geist dank Aufklärung als überwunden erhofften oder geglaubten, indes neu aufgelegten Diskriminierungen, die nicht das allen Menschen gemeinsame Menschsein in den Vordergrund stellen, sondern Herkunft, Geschlecht (biolologisch, konstruiert), Gruppenzurechnung von außen, also von Memen und Ideologemen, die im Geist von radikalem Konstruktivismus, Individualismus, Partikularismus, von (subjektiven) Gefühlen als politischer Referenzinstanz (Kategorie), von Opfermythologie Identitäten bauen, an die wiederum politische und kulturelle, insbesondere sprachliche und Forderungen nach Repräsentation geknüpft sind, die Realitäten verkennen, Glauben und Hoffen an die Stelle politischer Verantwortbarkeit und Leistbarkeit setzen – an Aussagen, Absichten und Forderungen, die spalten, trennen, Eskalation befördern. Prominent gegenwärtig der Eifer in Bezug auf Sprachregulierung, dem der Glaube zugrunde liegt, Sprache determiniere Denken, Fühlen, Handeln – ein Glaube, der Verschwörungsmythen nicht fern liegt und darin mündet, dass sich vermeintlich linke Bemühungen von sozio-ökonomisch geprägten Lebensbedingungen verlagern darauf, die Menschen zu anderem Wortgebrauch zu drängen. (Dass dabei Widersprüche bereits im Gedankengebäude auftauchen, geschweige denn ein Rekurs auf wissenschaftliche, empirische Evidenz vorliegt, sei nur erwähnt. Wie sollte die Gegensprachbewegung möglich sein, wenn doch Sprache Möglichkeiten in Denken und Handeln auch jener determiniert, die mit ihr aufgewachsen sind und nun zum Angriff blasen?)

Sarah Wagenknecht fordert dazu auf, das Gesamt dieser Gesellschaft und Nation in den Blick zu rücken, umzuschalten von Kultur auf Sozio-Ökonomie, von Radikalkonstruktivismus auf Realismus (Positivismus) im Sinn des Rationalen: Sehen, was ist, damit umgehen; sie plädiert dafür, umzustellen von jenen Ideologemen und Praktiken, die Gemeinschaft(sbewusstsein, -gefühl) be-, gar verhindern. Sie plädiert eindringlich dafür, eine „linke“ Politik zu realisieren und Vorschläge zu erarbeiten, die sozialpolitische und -ökonomische, bildungs- und kulturpolitische, innere und äußere Sicherheit einschließt, die Zukunftsfähigkeit dieser Republik anvisiert und – als eine Bedingung der Möglichkeit – Gemeinsinn (als Voraussetzung für Formen von Solidarität), Zugehörigkeitsempfinden und -bewusstsein ermöglicht.

In einem politischen Umfeld, in dem zunehmend gefühlt, subjektive Befindlichkeiten als politisch relevante Instanz behandelt, in dem Entfremdung von der Lebenswirklichkeit einer Mehrheit dominiert, in dem Politiker (auch Medien, Akteure der Wirtschaftswelt) vorzugsweise dem ideologisierten Zeitgeist eines (wenn auch in sich heterogenen) komfortabel gebetteten und weitgehend von prekären Existenzfragen abgeschotteten Milieus folgen und politisch leist- und verantwortbare Gestaltung gesellschaftlichen Zusammenlebens zunehmend vernachlässigt wird – in einem solchen Umfeld ragt das Buch von Sarah Wagenknecht heraus – und dies ganz unabhängig davon, ob man die zugrundeliegende politische Perspektive samt einzelnen Vorschlägen in ihrem Zukunftsentwurf teilt. Die Grundprämisse für eine friedliches Zusammenleben ermöglichende, im Gefüge der Wechselwirkungen durchdachte, pragmatische, an Folgen ausgerichtete Sozial-, Wirtschafts-, Umwelt-, Innen-, Kultur-, Bildungs-, Außen-, Migrationspolitik ist unbestreitbar: dass es insbesondere Gemeinsinn: geteilte bzw. von allen befolgte Werte und Normen, erlebbar in Handlungen (Ermöglichungsfaktoren), braucht, um Zusammenhalt zu ermöglichen – als eine wesentliche Bedingung der Möglichkeit, diese „repräsentative“ und sozial-liberale Demokratie zum Nutzen und Wohl der gesamten Bevölkerung auf Dauer zu stellen. Dr. Regina Mahlmann www.dr-mahlmann.de www.gabal.de

Regina Mahlmann