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Die Welt voller Wunder

Autor Pearl S. Buck
Verlag dtv
ISBN 978-3-423-28052-5

Dieser Roman der Nobelpreisträgerin für Literatur von 1938 wurde erst kürzlich, 2012, entdeckt und vermutlich kurz vor ihrem Tod, 1973, beendet.

Auch in diesem Roman greift die Autorin, die als Tochter eines Missionars in China aufgewachsen und später dorthin zurückgekehrt ist, auf ihre Erfahrung mental unterschiedlicher Welten (China, Amerika, Frankreich) zurück und inszeniert die Unmöglichkeit, eine Liebe zwischen dem Amerikaner Rann Colfax und der chinesischen Französin, Tochter eines im Kunsthandel höchst erfolgreichen Chinesen und einer Amerikanerin (die die Familie wegen eines Amerikaners verließ), als Ehe zu leben. In „Die Welt voller Wunder“ ist es der hochbegabte Rann Colfax, der in Stephanie Kung die Frau seines Lebens findet, die indes, obgleich sie seine Liebe erwidert, sich gegen eine Ehe entscheidet und sich vermutlich, anlässlich des Todes ihres Vaters und im Glauben, diesen verursacht zu haben, selbst umbringt.Doch das ist nur ein Ausschnitt aus dem Leben von Rann Colfax. Der Roman beginnt mit einer seitenlangen Schilderung seiner Geburt, die das Exzeptionelle bereits erahnen lässt. Rasch bemerken seine akademischen Eltern, besonders der Vater, dass Rann hochbegabt ist. Daran lässt die Autorin auf keiner Seite des Buches einen Zweifel, und die Penetranz der Betonung befremdet den Leser zuweilen und lässt ihn an „Atlas Shrugged“ von Ayan Rand denken. Rann erstrahlt als Held eines Typus, dem des Hochbegabten, der einsam seinen Weg geht (so die Idee), indes von einer komfortablen Situation in die nächste gleitet. Die Figur, um die alles kreist und die in bemerkenswerter Egozentrik sich ausschließlich auf die Frage konzentriert, wer sie sei und was sie werden wolle und wer ihr in welcher Weise (neben Büchern und Beobachtungen) dabei behilflich sein könne, bleibt dennoch hohl, maskenhaft, mit wenig lebendiger Persönlichkeit oder unverwechselbarem Charakter. Das sie auszeichnende Momentum ist das bereits im Kleinkindalter zu Tage tretende Staun- und Lernpathos und -pensum, kombiniert mit zahlreichen Wiederholungen eines Gedächtnisses, das „nichts vergisst“ sowie der Eigenart, selbst einschneidende Erlebnisse als Lernerfahrung zu deuten. Das alles geht einher mit einer ausgeprägten Selbstgerechtigkeit und einem Singularitätspathos, das auch jene Erfahrungen im Nachhinein umdeutet, die Rann zwar voller Gefühl durchlebt hat (mit der Mutter, dem Vater, einer erotisch Begehrten, einer platonisch Geliebten), ihm in der Retrospektive indes mit seinem Selbstbild unvereinbar scheinen. Rann reist finanziell abgesichert in Europa, vor allem England und Frankreich, herum, dient kurz in Korea, wo er seinen Erfolgsroman schreibt, und verweilt stets in der Schicht von Geldadel. Auf seinen Wander- und Lehrjahren macht er Begegnungen nicht nur mit Menschen, sondern auch mit Umständen. Wenn die Autorin auch in diesem Roman mit dem Mentalitätsunterschied Amerikaner/Chinesen und mit speziellen Ausprägungen von Kriegswirtschaft (Korea) oder dem Blendwerk in der Medienbranche arbeitet, tut sie das mit leichter Feder, ohne gesellschafts- und kulturkritische Ambition. Das geht auf Kosten der Plausibilität von Aktions-, Reaktionsweisen, Einstellungen von Personen und Handlungssträngen. Man kann den Roman als einen lesen, der das Erwachsenwerden eines hochintelligenten Narzissten erzählt, der schlussendlich doch der Liebe verfällt. Man kann ihn lesen als einen Roman, der die spezielle Situation von Hochbegabten in einer Zeit ohne Internet typologisch und mit idealisierter Tonalität beschreibt, ein heroisches Moment des Erwachsenwerdens herausstellen: die Grundkonstellation von Einsamkeit (mangels Personen, mit denen Rann „auf Augenhöhe“ kommunizieren kann) und der Bedeutung des Erfahrungslernens. Der Titel verweist auf eine Lebenshaltung, die jedoch nicht nur Hochbegabten zukommt: Die Wunder der Welt zu bemerken.

Hanspeter Reiter