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Digital und vernetzt

Autor Henning Lobin
Verlag Metzler
ISBN 978-3-476-04695-6

Henning Lobin, Professor für Germanistische Linguistik und seit August Direktor des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim, knüpft den Faden seines Buches Engelbarts Traum: Wie der Computer uns Lesen und Schreiben abnimmt aus dem Jahr 2014 weiter und widmet sich dem „neuen Bild der Sprache“. Er möchte Auswirkungen von Digitalisierung nicht auf Sprache, sondern „auf das Bild, das wir uns von Sprache machen“ beleuchten, da dies präge, wie Menschen über Sprache denken, reden und sie beeinflussen wollen (v.a. Bildung, Medien, Literatur). Zugleich bieten er und der Verlag ihren Lesern die Chance, diese Inhalte – digital zu nutzen…

Der Leser muss zunächst eine Unterscheidung verstehen: Sprache an sich mit ihren Idealen aus der Sprachwissenschaft, ein „Bild“ von Sprache und Sprachverwendung. Angeblich spüren „viele Menschen“ eine „Spannung“ zwischen Sprachverwendung und Ideal. Ob bzw. inwiefern und bei wem dies so ist, sei dahingestellt. Die Metapher des Bildes ist unglücklich gewählt, weil sie rein visuell und ein Bild statisch ist und die Metapher somit im Widerspruch steht zu dem Flüssigen, das der Autor für das vermeintlich neue Bild der Sprache reklamiert; entsprechend präferiert er die Metapher „Gewässer“. In beiden Fällen tut sich der Leser leichter, der Argumentation zu folgen, wenn der beide Metaphern mit „Verständnis“ übersetzt.

Inwiefern es tatsächlich um ein „neues“ Bild bzw. Verständnis geht, weil dank Digitalisierung und Vernetzung Sprache „anders dokumentierbar und erforschbar“ wird, ist diskutabel – zumal eine veränderte Zugangsweise zwangsläufig kein neues Verständnis begründet. Das behauptete Neuartige findet sich entweder in jedem Entwicklungsschritt als Vermehrung von Paradigmen oder gar nicht. Dies konzediert der Autor selbst an zahlreichen Stellen, indem er darauf hinweist, dass – z.B. Sammlung – auch vor Nutzung von Computern möglich war, jetzt aber in einem nie geahnten Ausmaß (das durchaus zu qualitativ anderen, neuen Erkenntnissen führen kann).

Die Argumentation und sehr informativen Ausführungen des Autors können in folgende thematischen Blöcke geordnet werden: Zunächst die historischen Entwicklungslinien von der Antike bis in die Gegenwart im Verwenden und im Verständnis von Sprache, einschließlich der Ausdifferenzierungen, Neudefinition und dem Auftauchen neuer Teildisziplinen in dem Reden über Sprache. Etwa von der Rhetorik als Geburt von Sprachverwendung und einer insofern empirisch fundierten Beschäftigung mit Sprache, fokussiert auf die Wirkung, die gesprochene, später auch geschriebene Rede hat, verbunden mit dem Bemühen, Regeln für eine gute Rede zu formulieren, damit das gute Reden systematisch lehr- und lernbar wird – ein Erfordernis im Übergang von der Praxis der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit (Redenschreiber). In dieser Entwicklung bilden sich Dialektik, Logik und Grammatik aus. Dialektik und Logik als Lehre folgerichtiger, überzeugender Gedankenführung und Grammatik als Regularium richtigen Redens.

Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft sieht sich mit der Konfrontation fremder Sprachen, vor allem mit nicht-alphabetischen Sprachen wie dem Chinesischen mit der Notwendigkeit konfrontiert, Sprach- und Grammatikverständnis zu erweitern: Abschied von der Idee einer materialen Universalgrammatik, Erweiterung des Repertoires sprachlicher Zeichen eingedenk ikonographischer Sprachen sowie jener, in denen Tonalität, Modulation von Stimme und andere visuelle (z.B. mimische) und auditive Signale Sprachverwendung und –verstehen maßgeblich charakterisieren. Der Horizont dessen, was als sprachliche Zeichen zu verstehen ist, wird heterogener, weicht von Buchstaben-, Wort-, Satzfixierung (Schriftlichkeit, Alphabet) ab. Die Formalisierung von Sprache wird vorangetrieben von dem Wunsch angetrieben, sprachliche, vorzugsweise grammatische, syntaktische Universalien zu entdecken, Standardisierung zu ermöglichen, um Kriterien richtigen, korrekten Sprachgebrauchs zu finden und Sprache rechenbar zu machen. Es reüssieren formal-logische, rationalistische Modelle und die Semiotik (Lehre sprachlicher Zeichen).

Beide Traditionslinien tragen ihre Stärken zusammen, indem sich das Repertoire sprachlicher Zeichen a) im Verlauf der Jahrhunderte stetig erweiterte und b) durch digitale Technologie Möglichkeiten der Erforschung erschlossen und Vernetzungen hergestellt werden, die der Autor als „neu“ bewertet. Die materielle Erweiterung von Sprache erweitert Geschriebenes und Gesprochenes um Bilder, Graphiken, Audio, Audiovisuelles, ferner Kontextfaktoren wie das Umfeld, in dem Sprache benutzt wird, also sämtliche Umgebungsfaktoren, Raumaspekte und Interaktionsfaktoren (zwischen Menschen und ihren Verhaltensweisen, zwischen Mensch und Raum wie etwa Bühne-Publikum, Anzahl der Sprachverwender, wer mit wem wie spricht etc., Kleidung und andere nonverbale Komponenten). Die soziologische Theorie von der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit (Berger/Luckmann) und die psychosoziale Sprachtheorie der Relationalität (Gergen/Gergen) sowie soziolinguistische Theorien lassen sich hier verknüpfen. Mit anderen Worten: Alles, was in einem Sprachverwendungszusammenhang der Fall ist und Wirkung erzeugt (bereits durch Wahrgenommenwerden), mutiert zu sprachlichen Zeichen. Sprache wird nicht mehr monomodal, sondern multimodal verstanden.

Die Unübersichtlichkeit der Parameter (die schlussendlich zu theoretischer und analytischer Redifferenzierung zwingt, wie die Bindestrich-Linguistiken zeigen, etwa Sozio-, Psycho-, Computerlinguistik) wird von dem Autor als Bereicherung gewertet. Dies nicht zuletzt, weil eingedenk der medialen und technischen Möglichkeiten Sprache im digitalen Raum „vollständig“ erforschbar wird, etwa in sozialen Netzwerken (Zweifel bleiben erlaubt eingedenk nicht-verrechenbarer, aber kommunikativ/ interaktiv wirkender Einflüsse wie etwa Ironie oder Humor). Die Verschiedenartigkeit bzw. das Umfassende sprachlicher Zeichen(systeme) begünstigt die von Henning Lobin präferierte Auffassung von Sprache als Gewässer – eine Metapher, die er benutzt, um die Wandelbarkeit und in diesem Sinn Fluidität von Sprache und Sprachverwendung (v.a. Grammatik, Lexik, Syntax) zu feiern. Das mündet unter anderem in seine Unterstützung etwa der Gender-Rhetorik. In diesem Rahmen bleiben zahlreiche Fragen offen, die unter anderem das Leben in einer Sprache als Teil persönlicher und kollektiver Identität im mikro- und makrosozialen Raum sowie Lehr-, Lernbarkeit und Kompatibilität/ Verständigung über Sprachmilieus hinweg betreffen.

Das Neuartige, so Henning Lobin, beginnt mit dem Gebrauch von Computern, da diese die Chance bieten, Sprache „digital und vernetzt“ zu verwenden und zu erforschen. Das geschieht via „Sammlung“, statistisch: „das quantitative Bild“ (Kapitel 5). Hier kann mehr desselben geleistet werden, da der Rechner schlicht ein Mehr an Informationen in kürzerer Zeit verarbeitet. Die Erforschung von Sprache als „Flächen und Räume“, „das physische Bild“ (Kapitel 6), speist Multimodalität sprachlicher Zeichen ein, eine Erweiterung des Sprachverständnisses um nicht-alphabetische Zeichen (s.o.) sowie die technische Möglichkeit graphischer, visualisierter Darstellungen. „Das Verstehen sprachlicher Äußerungen wird dabei in übergeordnete Prozesse der Gestaltwahrnehmung und ganzheitlicher Erschließungsstrategien eingebettet“ und befreit die Linguistik aus der „Fixierung auf eine idealisierte reine Sprachlichkeit.“ (126). Sprache als „Gewebe“ verweist auf „das kommunikative Bild“ (Kapitel 7). In diesem Abschnitt hebt der Autor die technisch gegebenen Möglichkeiten interaktiver, vernetzter Kommunikationsformen und –foren hervor. Die Entwicklung kulminiert in eine „digitalen Sprachwissenschaft“, einem „neuen Bild der Sprache“, die Sprache ausweist in ihrer „Einbettung in ein Gewebe sprachlicher, kommunikativer und sozialer Bezüge“ (150). Das ist nicht neu, sondern jahrzehntealte Erkenntnis.

Dieses Verständnis schließt Konzepte um Fluidität (Flüssigkeit: Sprache im Wandel, Sprachforschung im Wandel, Sprachanwendung im Wandel) ebenso ein wie Pluralität: „Vielfalt der Erscheinungsformen in verschiedenartigen Kommunikaten“, Zeichensystemen, Modalitäten (S. 151). Von hier aus ist die Folgerung klar: Sprache nicht mehr „als Kulturgut, das geschützt, gepflegt und entwickelt werden muss“ (151), sondern Sprache als „Gewässer“ mit und in einem Ökosystem, von und in dem sie geformt wird. Steuerung dieses Ökosystems ist nicht möglich (S. 153). Bestenfalls kann Steuerung dazu beitragen, dass es in einen „optimalen Zustand“ kommt, dessen nähere Bestimmung der Autor allerding schuldig bleibt. Vielleicht richtet sich das Optimum an zweierlei aus: an der „Standardsprache“ sowie an der Beeinflussbarkeit von Sprache. Die „deutsche Standardsprache … als kanalisierter Flussverlauf, der von einer Vielzahl umgebender Gewässer, den Varietäten des Deutschen gespeist wird.“ (174) Das sind allgemeine Bemerkungen, ein wenig verträumt, die im Geiste der letzten Seiten des schmalen Bandes stehen und auf eine sozial- und sprachpolitische Utopie hinzulaufen, die Sprache mit den Etiketten „freiheitlich“ und „partizipatorisch“ belegt. Die (sprach-)politische Parteilichkeit, die sich im Befürworten des Genderns und im undifferenzierten Negativbewerten von Gendergegnern ebenso zeigt wie in der Absage an die Pflege von Sprache, wird von diesem Geist der Pluralität, Varietät und Fluidität getragen, leistet indes keinen sachlichen Mehrwert.

Alles fließt – auch die Gedanken des Autors, der, obgleich um die kategorialen Unterschiede im Reden über Sprache wissend, eben diese zuweilen. Der Band ist anregend dort, wo er eine – wenn auch grobe – Skizze der Entwicklungslinien von Sprachverständnis und –forschung zeichnet, und dort, wo die linguistischen Theorien zu Grammatik, Logik, Semiotik auf ihren Beitrag zur Computerlinguistik erläutert und mit Beispielen belegt werden. Es nährt das Verständnis dessen, was Computerlinguisten leisten.

Regina Mahlmann