Europas Hunde
Autor | Alhierd Bacharevic |
Verlag | Sonar |
ISBN | 978-3-863-91315-1 |
„Alhierd Bacharevičs großer europäischer Vorabend-Roman erspürte schon 2017, was uns hier erst allmählich zu dämmern beginnt“, so u.a. wird er promoted, mit seinen fast 750 Seiten: Ist das nun Sci-Fi, Utopie (dann wohl eher Dystopie…) – oder schlicht ein gesellschaftskritischer „Roman“, als der er inzwischen auch verboten wurde in Russland wie in Belarus? „Roman“ in Anführungszeichen deshalb, weil der Text ein Folge längerer und kürzerer Erzählungen ist, durch Figuren bzw. Inhalte eng miteinander verwoben…
Belarus?
Dazu gehört die Kunstsprache Balbuta, die in unterschiedlicher Intensität überall auftaucht, ob im Fokus oder nebenbei. Nun, „verschrobene Gestalten bevölkern diesen „totalen Roman“: einsame Sucher, fiebrige Träumer, verkrachte Existenzen, geborene Eskapisten. Da ist Maŭčun, der Junge, der davon träumt mit seiner geliebten Gans gen Westen zu fliegen, bis ihm eine junge Spionin vom Himmel vor die Füße fällt. Der Tote im Berliner Rosengarten, dessen rätselhafte Spuren den Ermittler Teresius Skima“, der als queere Figur (Theresia?!) weiter östlich in Russland durchaus gefährdet wäre/ist, die meiste Zeit in Minirock und Strumpfhose unterwegs„durch ein Netzwerk von Buchhandlungen in ganz Europa zu einem abgeschotteten Superstaat führen.“ Vielleicht aber auch nicht…“Oder Oleg Olegowitsch, ein Misanthrop aus Minsk, der den Sprachen abgeschworen hat und eine neue erfindet: Balbuta. Seine geheime Liebste, die er hegt und pflegt.“ Und die für die Leserschaft nachvollziehbar wird, da als eingelegte Broschüre mitgeliefert, Grammatik wie Wörterbuch inkl., wow!
Europa?
Ziemlich weit herum kommt dieser Skima, in einem zeitlich auch differenzierten Europa: Jetztzeit 2017, dann 2030 (da gibt´s Belarus noch, siehe S. 649 etc.), schließlich 2050 nur noch mit Potemkinschen Dörfern (S. 701) – insofern also durchaus Sci-Fi/Dystopie, wenn auch verbunden mit Spiritistischem rund um die Babka Benigna mit besonderen Fähigkeiten, eine Art (post-?)moderner Hexe, vom Andertal mental ins Ne-Andertal wandernd = Neandertal, in dem ein Teil der Geschichte tatsächlich spielt (S. 268ff. usw., schließlich S. 406ff.))… „Sie alle graben, schürfen tief und träumen sich zugleich federleicht, entdecken Geschwister im Geiste, fallen aus der Zeit, überwinden Grenzen. Aber immer lauter bellen die Kettenhunde – in Berlin, Prag, Paris, Vilnius, Minsk …“ Naja, Hunde tauchen zwar auf, allerdings eher reduziert (etwa S. 315)und gelegentlich zum Schluss hin, weshalb mir der Titel a bissal verschleiert geblieben ist. Oder ist da drin versteckt, dass Europa „vor die Hunde geht“? Oder ihnen andererseits ein Maulkorb verpasst wird, siehe das Buch-Cover, vielleicht auch im Sinne von „Hunde, die bellen…“? Wie auch immer, ein beeindruckendes Panorama ist geboten, was mögliche Botschaften via Lyrik angeht – plus eben eine eigenständige conling = künstliche Sprache. Das hat u.a. J.R.R. Tolkien mit seinem Elbisch vor einem Jahrhundert geschafft (und geschaffen), in dessen Tradition der Autor sich wohl handeln sah.
Sprache
…ist tatsächlich also ziemlich zentral in diesem Roman, der damit streckenweise fast als Sachbuch daherkommen mag, siehe etwa früh die Impulse zu Sprache (S. 34ff., dann auch S. 65ff., 135f.), quasi als Programm fürs Erstellen einer conling: leicht zu erlernen, Wohlklang, poetisch, eigene Philosophie, mit Freiraum. Ja, Balbuta kann, darf und soll individuell weiter entwickelt werden, quasi als Open-Source-Code, sehr modern im analogen Geschehen! Es gibt gar Gedichte komplett in dieser Sprache plus ein Kapitel (S. 557ff.): Wer will, kann derlei mithilfe der eingelegetn Chrestomathie entschlüsseln! Zwischen die einzelnen Geschichten eingeschobene Gedichte fokussieren unterschiedliche Themen, etwa Kampfkunst (S. 257f.), die mit dem Geschehen zu tun haben. Zwischendurch gibt´s eine Meta-Ebene als Zitat des Autors (in kursiv, S. 348 und darum herum), dazu diverse literarische Bezüge, zentral Nils Holgersson und seine Gans (u.a. S. 497, plus die Gänsefeder Skima begleitend, u.a. S.585f. usw.). Voila, was eine Geschichte… HPR www.dialogprofi.de www.gabal.de