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Flut und Boden

Autor Per Leo
Verlag Klett-Cotta
ISBN 978-3-608-98017-2

Eine Autobiografie – eine Familiengeschichte – ein Roman? Tatsächlich habe ich lange gezögert, meine Rezension unter „Belletristik“ einzuordnen – oder doch Sachbuch? „Roman einer Familie“ hat der Autor sein Werk genannt und nimmt „doch“ laufend Bezug auf Quellen eben seiner Familie, Tagebuch, Briefe, Erinnerungen. Primär spielt die Handlung in Bremen-Vegesack, nahe am Wasser. Und arbeitet die Nazi-Vergangenheit des einen Großvaters auf, ins Verhältnis gesetzt zum völlig anderen Leben seines Bruders. Mit dem er, der SS-Mann und Lebensborn-Funktionär, dennoch einen stärkeren Bezug hatte als zu den beiden anderen Brüdern. Enkel Leo hat davon nur bedingt „etwas“ mitbekommen, typische Situationen in vielen Familien der Nachkriegszeit. Auch deshalb, weil er in München zuhause war – und eher zufällig auf Unterlagen stieß, die er dann verarbeiten wollte. Er als studierter Historiker, der damit Familiengeschichte aufarbeitet und ein empfindliches Stück deutsche Historie noch dazu. Denn natürlich recherchiert er, über die erhaltenen Unterlagen hinaus, auch durchaus das Objekt seiner Doktorarbeit einbeziehend (S. 186ff.): „Klages war kein Nazi, aber viele Nazis verehrten ihn … Klages wollte wissen, wie sich Menschen nach Art und Wert unterscheiden lassen .. Obwohl sein Eigenes unverkennbar eine Idee von „Deutschtum“ war, nannte Klages es fast nie so …“. Und findet auf diese Weise neue Zugänge auch zu seinem Vater, dem Sohn des Nazi-Schergen. Wie auf der U4 zusammen gefasst: „Zwei ungleiche Brüder aus einer stolzen Stadtvilla an der Weser: Aus Martin wird ein Goetheaner und genauer Beobachter seiner Welt, aus Friedrich ein aktivistischer Krieger und Abteilungsleiter im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS. Für den Enkel entwickelt sich die Nazi-Vergangenheit seines Großvaters zur Obsession“. Und auch die Religion kommt ins Spiel – „beide waren religiös“ (S. 253ff. „Stimmen“). „Es war der[en] Vater, von dem die Religion kam. Heinrich Leo war der Sohn eines lutherischen Pfarrers.“ Der Autor arbeitet übrigen stark mit Bezeichnungen, wie sie in Stammbäumen benutzt werden mögen, um Beziehungen außerhalb der grafischen Darstellung anzudeuten: Bewusst angewandt, auch hier Nazi-Bezüge zu illustrieren? –  Da mag mancher Leser durchaus nachdenklich werden und sich selbst fragen, wie das „damals“ war, mit der eigenen Familie: Je nach Alter die Eltern- oder Großeltern-Generation, im Einzelfall inzwischen sogar die Urgroßeltern-Zeit … Anregend, aufwühlend – und vielleicht auch: ein wenig klärend. HPR

Hanspeter Reiter