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Frühe Prosa

Autor Heimito von Doderer
Verlag C.H.Beck
ISBN 978-3-406-39925-1

Der Band vereinigt Texte und Textfragmente aus der Zeit der sibirischen Gefangenschaft 1916 bis 1929 sowie aus den 1920er Jahren. Die Herausgeber führen in einem ausführlichen editorischen Anhang sowohl Hinweise zu den Quellen aus Doderers Notizen zu den Werken an als auch weitere Quellen, die Aufzeichnungen fruchtbar machen. Der Anhang bietet dem Leser zudem inhaltliche Orientierung zu den Texten dieser frühen Prosa.

Der Band vereinigt „Die sibirische Klarheit“, „Die Bresche“, „Jutta Bamberger“ (ein Fragment aus dem Nachlass) und „Das Geheimnis des Reichs“. Leser der Hauptwerke „Die Strudlhofstiege“, „Die Dämonen“, „Die Wasserfälle von Slunji“, „Ein Mord, den jeder begeht“ lernen in diesen Texten den Autor von einer sensiblen, biographische Situationen erkennbar verarbeitenden Seite her kennen – etwas, das Doderers späteres Romanprogramm (Zurücktreten des Autors, Form vor Inhalt) bis zur Unsichtbarmachung verdrängen wird.

Gleichwohl ist Doderer bereits in diesen frühen Schriften stilistisch, metaphorisch und erzähltheoretisch bereits als jener höchst originelle und reflexionsstarke Autor erkennbar, und auch als jener, der Personal aus der einen in eine andere Erzählung mitnimmt. Das „Dodereske“ zeigt sich ferner in Themen oder Motiven, etwa in dem Stellenwert von Landschaft, auffallend besonders in „Die sibirische Klarheit“. Die Landschaft erscheint als repräsentativ oder analog der mentalen, psychischen Verfasstheit der Menschen, und auch die Schilderung der Lebensumstände der Gefangenen sowie Handlungen und Gestimmtheit spinnen den Leser in fast melancholische Grundverfasstheit ein. Dabei verzichtet – ganz der späte Doderer – der Autor auf Psychologisierung und Emotionalisierung, sondern überlässt die emotionale Reaktion ganz dem Leser. Dies ist vor allem Doderers unglaublich einfühlsamer, wortreicher und gleichzeitig nüchternen Schilderung von Landschaft und Menschen und deren Wechselwirkung zu verdanken.

Ganz anders ist „Die Bresche“ komponiert, in der Heimito von Doderer (wie später auch in „Die Strudlhofstieg“ und „Die Dämonen“) den Leser gleichsam anspricht. Die Erzählung, deren Untertitel lautet: „Ein Vorgang in vierundzwanzig Stunden“, thematisiert ein zentrales Motiv Doderers: die Notwendigkeit eines „Umwegs“, um zu Klarheit, zu Erkenntnis zu gelangen – „Menschwerdung“ (als ein Zentralanliegen des Autors) zu ermöglichen. In diesem Text begegnet der Leser zudem einer Figur, die in „Jutta Bamberger“ wiederkehrt, den Komponisten S.A. Slobedeff, dem ein „Exkurs“ gewidmet ist, da sein Stellenwert für die „Bresche“, den Durchbruch der Hauptperson erst ermöglicht. „Nun! Die Bresche! Die Entscheidungsschlacht Ihrer Jugend: danken Sie Gott für die Niederlage im ersten Gefecht: anders wären Sie für ihn auf immer verloren gewesen….Aber sie kam, die Bresche, sie wurde geschlagen. Sie wurden hinausgeschleudert -“ „Ja ja…. Ich wurde hinausgeschleudert“, sagte Herzka halblaut, als besinne er sich auf etwas.

„Jutta Bamberger“ (Ein Fragment aus dem Nachlaß“) beschäftigte Heimito von Doderer noch Jahrzehnte später, „Begegnungen“ mit realen „Modellen“ inklusive (noch 1951). Der Text kreist um (geglückte? Verunglückte?) Menschwerdung über Umweg (thematisch orchestriert über Andersartigkeit im menschlichen Lebensumfeld sowie um weibliche Homosexualität); auch hier werden biographische Befindlichkeiten und Entwicklungen, so Doderer selbst, eingespeist, um – so der Autor – sich der Figur der Jutta Bamberger nähern und sie schildern zu können. Auch hier spielt Slobedeff eine zentrale Rolle. Erzählkompositorisch sei etwas erwähnt, das vor wenigen Jahren als Novität gefeiert wurde: das parallele, in Spalten dargestellte Offenbaren von Gedanken und Situationen von Figuren. (Die Ausführungen im Anhang seien dem Leser ans Herz gelegt, weil sie nicht nur inhaltlich, sondern auch konzeptionell informieren, sondern auch das Fragment in den Lebens- und Schreibhorizont Heimito von Doderers stellen.)

„Das Geheimnis des Reichs“, dessen Wiederauflage Heimito von Doderer zu seinen Lebzeiten untersagt hatte, ein Roman, dessen Untertitel „Roman aus dem russischen Bürgerkrieg“ lautet (siehe Anhang s. 491f) kreist um Gefangenschaft, Verrat, Schuld und auch hier: Umweg und Menschwerdung, mit Figuren, von denen einige in anderen Romanen wiederkehren, etwa in „Der Grenzwald“ und in „Die Dämonen“ (insbesondere Sektionsrat Geyrenhoff). Auch dieser Roman beschäftigte den Autor offenkundig lange Zeit, nicht zuletzt aufgrund seiner „Dummheit“ während des Naziregimes. Die Herausgeber zitieren aus Doderers Commentarii: „ Dieses Buch birgt Gefahren. Die anonymen Ereignisse können nach allem, was 33-45 erlebt wurde, von dieser Art, keinerlei Eindruck machen. Die Übernahme historiographischer Aufgaben im Sinne einer Vollständigkeit (GdR) ist fernzuhalten. (25. August 1965), ein Jahr vor seinem Tod 1966.

Regina Mahlmann