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Gewalt

Autor Steven Pinker
Verlag S.Fischer
ISBN 978-3-10-061604-3

In „Eine neue Geschichte der Menschheit“ (vom Verlag „Opus Magnum“ genannt) haut der Autor in gewohnter Manier auf die Pauke: Seine linguistischen Ansätze haben mich (als studierten Sprachwissenschaftler und Kommunikations-Trainer) immer sehr interessiert. Hier allerdings geht es um mehr: „Stimmt es, dass die Gewalt im Laufe der Geschichte immer mehr zunimmt?“ (U4) In einer ausführlichen Analyse kommt der Autor zum gegenteiligen Ergebnis, akribisch recherchiert und aus mehreren Perspektiven interpretiert. Natürlich nimmt er dazu auch Primaten in den Blick, unsere Nächstverwandten unter den Nicht-Menschen, und geht bis in die Urzeit des menschlichen Aufbruchs zurück. Werden dort archäologische Funde interpretiert, stehen fürs Mittelalter (in Europa) zumindest teilweise Belege zur Verfügung. Pinker identifiziert sechs Trends, denen er in den Hauptkapiteln (2-7) nachgeht, kurz gefasst im Vorwort (S. 15ff.): „Der Übergang von der Anarchie einer Gesellschaft aus Jägern, Sammeln  und Gärtnern … zu den ersten landwirtschaftlich geprägten Hochkulturen mit Städten und Regierungen … vor rund 5000 Jahren … Der zweite … zog sich über mehr als halbes Jahrtausend hin und ist in Europa bestens belegt. Zwischen dem Spätmittelalter und dem 20. Jahrhundert erlebten die europäischen Staaten einen zehn- bis fünfzigfachen Rückgang der Mordquote … Der dritte … begann im 17. Und 18. Jahrhundert, also im Zeitalter der … europäischen Aufklärung … gleichzeitig regte sich zum ersten Mal der Pazifismus … Der vierte wichtige Wandel fand nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs statt … diesen gesegneten Zustand bezeichneten Historiker als den Langen Frieden … Bei dem fünften Trend geht es ebenfalls um bewaffnete Konflikte, er steht aber noch auf tönernen Füßen …: Organisierte Konflikte aller Art … sind auf der ganzen Welt seit dem Ende des Kalten Krieges 1989 zurückgegangen … bezeichne ich als Neuen Frieden … Und schließlich entwickelte sich in der Nachkriegszeit … ein wachsender Widerwille gegen Aggressionen im kleineren Maßstab, unter anderem was Gewalt gegen ethnische Minderheiten … angeht … ich werde sie als Revolution der Rechte bezeichnen.“ Dagegen wirken „fünf innere Dämonen“: Räuberische und ausbeuterische Gewalt, Herrschaftsstreben, Rache, Sadismus, Ideologie. Hilfreich dagegen „vier bessere Engel“, gemeint sind Empathie, Selbstbeherrschung, Moralgefühl und Vernunft, die Homo sapiens (sapiens) auszeichnen. Dann identifiziert Pinker noch „fünf historische Kräfte“, darunter den Leviathan („ein Staat und eine Justiz mit einem Monopol auf die legitime  Anwendung von Gewalt“, S. 18), den diese vier weiteren Kräfte unterstützen beim Entschärfen der oben genannten inneren Dämonen: Wirtschaftliche Zusammenarbeit, Feminisierung, Weltbürgertum, Beförderung der Vernunft. – In dieser Kurzfassung zeichnet sich das Konzept des Buches weitest gehend ab, das allerdings erst überzeugend wirken kann, wenn Leser sich den Details „stellt“: Die Fülle ist schon eine Herausforderung, die ab und an auch zum Überspringen von Grafiken und Tabellen führen mag. Und natürlich sind manche Sichtweisen diskussionsfähig, doch so ist dieses „Opus Magnum“ auch gemeint, zur Auseinandersetzung anzuregen. Und vielleicht zu überlegen, wie der Trend weg von der Gewalt (wenn er denn so klar nachvollziehbar ist, wie von Pinker gewollt und gesehen) weiter im positiven Sinne verstärkt werden kann – durch den einzelnen, durch Politik, durch mehr Toleranz im Allgemeinen wie speziell etwa in religiösen Fragen … „Auf Engelsflügeln“ titelt Pinker sein abschließendes 10. Kapitel, mit dem er zusammen fasst und Ausblick bietet: „Aber während dieser Planet sich weiter nach den festgelegten Gesetzen der Schwerkraft im Kreise bewegt, hat unsere Spezies auch Wege gefunden, um die Zahlen zu senken und für einen immer größeren Anteil der Menschheit die Möglichkeit zu schaffen, in Frieden zu leben und eines natürlichen Todes zu sterben. Bei allem Kummer in unserem Leben, bei allen Schwierigkeiten, die auf der Welt noch bleiben, ist der Rückgang der Gewalt eine Leistung, die wir würdigen können, und ein Impuls, die Kräfte von Zivilisation und Aufklärung, durch die sie möglich wurde, hoch zu schätzen.“ Ein schönes Schlusswort … – HPR

Hanspeter Reiter