Holocracy
Autor | Brian J. Robertson |
Verlag | Vahlen |
ISBN | 978-3-800-65087-3 |
In den vergangenen Monaten wurde über das Modell „Holacracy“ Einiges geschrieben, meistens verkürzt auf einige Begriffe, durchaus mit dem Fragezeichen angesichts des Mikromanagements durch Regulierung und gleichzeitig mit dem Pathos des Egalitären im semantischen Horizont von Demokratisierung in der Unternehmensführung. Es lohnt sich indes, das Buch des (Mit-) Begründers des Modells zu lesen. Bei dem einen oder anderen Leser wird sich dann Ernüchterung breit machen. Der Ansatz ist, wie Brian J. Robertson gegen Ende des Buches selbst hervorhebt, weniger revolutionär im Sinn von völlig neu, als es den Anschein hat und popularisiert wird. Dies wird verstärkt bzw. ermöglicht durch Anregungen, die zumindest Bezüge herstellen lassen zu bekannten Theorien und Entwürfen. Augenfällig sind (mal intendiert, mal weniger) Anleihen bei der Theorie biologischer Evolution (die zuweilen recht eigenwillig interpretiert bzw. instrumentalisiert wird), bei funktional- oder differenztheoretischen Überlegungen der Systemtheorie Luhmannscher Prägung (u.a. Trennung von „Person“ bzw. Mensch und Rolle und Funktion, Ausdifferenzierung von Funktionen mit Option auf Ausdifferenzierung neuer Subsysteme und Systeme), bei der Idee fraktaler Unternehmen und der Idee einer Ganzheit (ausgehend von dem Terminus Holon); ferner bei verhaltenspsychologischen Ansätzen in der Färbung von „Nudge“ (Verhaltensregulierung durch regelnde Rahmenbedingungen), bei Michel Foucault (Verteilung von Macht, Machtausübung ohne Zentrum), bei gesellschaftspolitischen Konzepten von Verfassung, Rechten und Pflichten („Holacracy-Verfassung“, die zu befolgen ist). Außerdem realisiert das Modell die Depsychologisierung von Zusammenarbeit in beruflichen oder unternehmerischen/ organisatorischen Kontexten. Der Autor hebt das evolutionäre Momentum hervor: die permanente Entwicklung als Adaption und Assimilation. Das ist keineswegs neu, wie die Literatur zum Evolutionären Management seit gut vier Jahrzehnten zeigt. Auch der Gedanke, Macht und Autorität auf alle Schultern zu verteilen, kann man – auf Unternehmen angewandt – bereits bei Peter Drucker lesen (1990er Jahre). Das Novum mag in der Verbindung verschiedener theoretischer und konzeptioneller Denklinien und Praktiken liegen – analog dem eklektischen Modell des NLP. Inwiefern es sich also um eine Revolution (Grundlagen zerstörend) oder um einen Paradigmenwechsel handelt, ist aus theoretisch-konzeptioneller Sicht fraglich. Das ist keine Kritik, sondern nur eine Korrekt zur Einordnung. Zumal der Blick auf die Praktik von Holacracy zeigt, dass die Einführung durchaus grundlegendes Verändern von Mustern, Routinen und Überzeugungen sowohl im Führen als auch im Geführtwerden erfordert. Dazu trägt das Vokabular bei: eine Sprachregelung, die bekannte Begriffe verändert besetzt (z.B. „Regel“) oder neue Begriffe für Bekanntes setzt und so durchaus zu Verwirrung (und damit das Bedürfnis, professionell durch das Robertsonsche Unternehmen beraten zu werden) steigert, etwa „Kreise“ analog zu „Abteilung“, „Bereich“, oder „Spannung“ als gleichbedeutend zu „Problem“, „Schwierigkeit“. Diese Ausschnitte mit dem Vorzeichen „Alter Wein in neuen Schläuchen“, das Wertlegen auf veränderte Sprachpraxis, verteidigt Brian J. Robertson an einer Stelle mit dem Hinweis auf die psychologische Wirkung. Das hat durchaus Berechtigung; denn das Verwenden bekannter Termini, Metaphern verführt dazu, sie mit dem Vertrauten zu besetzen. Exakt dies will der Autor verständlicherweise verhindern. Holacracy soll helfen, Organisationen in einer veränderlichen Welt überleben zu lassen und erfolgreich zu machen und setzt entschieden auf: die (systemtheoretisch vertraute) Umstellung von Person auf Prozess sowie Hierarchie auf Funktion und besteht auf der strikten Bezogenheit sämtlicher Aktivitäten auf den „Sinn“ der Organisation (versus individuelle Sinnsuche und Selbstverwirklichung). Der Erfolg, Holacracy einzuführen, steht und fällt mit dem Gehorsam gegenüber der Verfassung und der Corporate Governance, die im wörtlichen Sinn grundlegend sind. Das Ausmaß der Regulierung verweist auf eine weitere Säule: Mikromanagement sowohl in der Metaperspektive des Arbeitens an (!) der Organisation als auch in der Perspektive operativen Arbeitens als Arbeit in (!) der Organisation, vermittelt durch Anweisungsreglement, heute auch Prozessführung(sschrittfolge) genannt. Insofern wird direkt personale Macht abgegeben an administrative oder prozedurale Vorgaben (die allerdings auch von Menschen definiert sind, jedenfalls noch). Man kann die paradigmatische Umstellung auch als eine bezeichnen, die autoritäre/ autoritative oder direktive Macht in den Vordergrund schiebt, die durch Regeln dennoch demokratisch-partizipatorische Optionen bietet und deren Wahrnehmung/Realisierung fordert. Ein scheinbares Paradoxon –scheinbar, weil es sich hier um Regeln aus der Metaebene handelt: Regeln als Rahmenbedingungen, als konditionale Markierungslinien, die im Übrigen u.a. die Diskussion um „Werteorientierung“ in der Führung zumindest systematisch eingrenzen und den Stellenwert des symbolischen Führens oder Kulturmanagements vermindern. Eindeutig ist, dass Führende immer auch Geführte sind, ähnlich wie Ursachen als bewirkte Wirkungen gelten. Das Geführtwerden-durch-Regeln (statt direkt durch Menschen – ein Wechsel, der auch als Wechsel von direkter zu indirekter Führung bezeichnet wird und systemtheoretisch mit Korrelationen und Relationen beschrieben ist) verträgt sich zwar nicht zwangsläufig mit dem Anspruch, Autonomie zuzulassen und zu fördern. Da jedoch autonomes Handeln eingehegt wird durch Regularien und Abstimmungserfordernisse, findet sich auch dieser Terminus semantisch gewandelt: Autonomie meint hier die Autonomie im Kontext der Konsensbildung im jeweiligen Kreis, auf der Ebene von Governance und operativem Tun. Und das ist allemal realistischer und zielführender als die Rhetorik der Autonomie im Horizont von Selbstverwirklichung mit Fokus auf das individuelle Interesse. Der Autor macht eindeutig klar: Der Einzelne dient der Organisation und nicht umgekehrt. Das Konzept von Holacracy birgt noch zahlreiche weitere Anregungen zum Nachdenken und auch zum Ausprobieren. Für experimentierfreudige Macher: Nachdem Brian J. Robertson jahrelang der Auffassung war, entweder man führe das Konzept ganz ein oder müsse es lassen, konzediert er inzwischen, dass zumindest einige Praktiken eingeführt werden können, ohne die gesamte Organisation umzumodeln. Und dazu gibt er Hinweise. Die Lektüre ist allen empfohlen, die sich ernsthaft mit Fragen von Führen in und von Unternehmen/ Organisationen befassen. Ihnen sei empfohlen, das Buch zunächst ganz zu lesen und danach jene Aspekte zu sondieren, zu denen sich im Text verstreut wichtige Ausführungen finden, um dann die Essentials zu notieren bzw. grafisch aufzubereiten (das geht mit Stift rasch). Zweck und Ziel ist, eine Grundlage zu erhalten für das Verstehen der Grundidee und Praxis, um daran weiteres Arbeiten mit Anregungen aus oder mit dem Modell anzuschließen.
Dr. Regina Mahlmann, www.dr-mahlmann.de